Alles fließt
Archimedes

6. Kinetik

6.1 Reaktionsraten

6.1.1 Allgemeine Bemerkungen

Im vorhergehenden Kapitel haben wir uns ausführlich mit dem thermodynamischen Gleichgewicht beschäftigt, dem finalen Zustand den alle Systeme anstreben; sei es ein einzelnes Atom (ein System aus wenigen Nukleonen, Elektronen und Feldern) oder das gesamte Universum (ein System aus ca. 1080 Teilchen in sehr vielen verschachtelten Untersystemen).
Gottseidank ist das Universum, das Solarsystem, die Erde und jede Person die das hier liest, sehr weit weg vom Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts - alles fließt, wie ein alter Grieche vor langer Zeit behauptet hat.
Denn sonst würde nichts mehr geschehen; im absoluten GG ändert sich nichts mehr. Alle zeitlichen Ableitungen relevanter Größen sind = 0.
Das thermodynamische Gleichgewicht kann man damit als das finale Ziel eines Systems betrachten.
Ein System, das sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befindet, hat die Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu begeben.
Dazu muß es sich "bewegen", zeitliche Ableitungen seiner Zustandsfunktionen müssen ¹ 0 sein. In der Mechanik braucht man dazu Kräfte - und auch in der Thermodynamik sprechen wir von verallgemeinerten Kräften, die das System in einen anderen Zustand treiben" - z.B. in Richtung Gleichgewicht.
Die treibenden Kräfte in Richtung Gleichgewicht sind die partiellen Ableitungen des passenden thermodynamischen Potentials. Der Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu begeben, können aber (nochmals: gottseidank) diverse Einflußfaktoren entgegenwirken. Man kann sie in zwei Klassen einteilen:
1. Das System ist offen, es tauscht Energie (und Entropie) mit der Umgebung aus.
Dann kann es seine Entropie konstant halten oder sogar verringern (auf Kosten einer Entropiesteigerung woanders). Das gilt insbesondere auch für biologische Systeme. Ohne Energiezufuhr (im wesentlichen benötigt zur Entropieerniedrigung, weniger zur Temperaturregelung und Arbeitsverrichtung), betritt man unweigerlich der Weg in Richtung Gleichgewicht, auch Tod genannt.
Allgemeiner gesagt: Etwas fließt durch das System - Teilchen, Energie, elektrischer Strom, Entropie, ...; was auch immer. Jedenfalls sind wir nicht im Gleichgewicht solange die Bilanz ("rein" minus "raus") nicht = 0 ist.
2. Das System ist zwar von der Umwelt weitgehend isoliert (z.B. nur durch eine gemeinsame Temperatur gekoppelt), befindet sich aber in einem metastabilen Gleichgewicht.
Das System sitzt also in einem Nebenminimum des jeweiligen thermodynamischen Potentials; aus diesem Nebenminimum wird es nur langsam oder gar nicht herausfinden.
Hier werden wir hauptsächlich diesen Fall behandeln.
Die Thermodynamik als Fundamentalwissenschaft kann eigentlich nur Aussagen über Gleichgewichte machen. Für Systeme weit weg vom thermodynamischen Gleichgewicht, sind andere, weit weniger gut verstandene Theoriegebäude zuständig, bekannt unter Bezeichnungen wie Synergetik, Chaostheorie, Nichtgleichgewichtsthermodymanik oder Theorie kritischer Phänomene.
Für Systeme, die aber nicht so ganz weit weg vom Gleichgewicht sind, kann die herkömmliche Thermodynamik ergänzt werden durch die Kinetik, die Lehre vom Weg ins Gleichgewicht.
Typische Beispiele für kinetische Aufgabenstellungen findet man in allen Phasendiagrammen. Der Weg von einem Gleichgewichtszustand zu einem anderen - z.B. durch Ändern der Temperatur - bedingt kinetische Phänomene, es muß sich im Laufe der Zeit etwas ändern.
Bleiben wir bei diesem Beispiel! In anderen Worten; Wir betrachten wieder mal ausschließlich feste Körper, überwiegend in der Form von Kristallen.
Nichtgleichgewicht kann dann bedeuten, dass zum Beispiel ein Temperaturgradient vorliegt - der Körper ist beim Abkühlen außen kälter als innen.
Das ist aber nicht so spannend, wie ein chemisches Nichtgleichgewicht, d.h. es liegen nicht die Phasen vor, die das Phasendiagramm verlangt. Oder wir haben zuviele Defekte, zum, Beispiel Leerstellen.
Damit sich Gleichgewicht einstellen kann, muss zunächst mal eine einzige Bedingungen erfüllt sein:
Die Atome des Kristall müssen sich bewegen können; wir brauchen das Phänomen der Diffusion, das wir schon mal kurz angesprochen haben.
Atome müssen im Kristall "herumhüpfen" können, sonst können sich keinen neuen Phasen bilden oder sonstige strukturelle Änderungen erfolgen.
Das ist eigentlich trivial - wir haben die beiden wesentlichen Diffusionsmechanismen ja schon kurz behandelt. Hier wollen wir das Ganze jetzt sehr viel genauer untersuchen.
Bewegung von Atomen findet eben auch in Systemen statt, die schon im thermischen Gleichgewicht sind. Machen wir dazu einen Gedankenversuch:
 
Wir nehmen einem Kristall mit der für Gleichgewicht genau richtigen Zahl von Leerstellen und Zwischengitteratomen; er sei im Gleichgewicht, d.h. es ändert sich weder die Zahl der atomaren Fehlstellen, noch ihre maximal unordentliche (= statistische) Verteilung.  
Leerstellendiffusion
Das schließt aber nicht aus, dass sich die einzelnen Defekte bewegen, dass sie diffundieren. Wir haben uns das schon mal vom Prinzip her angeschaut; hier ist nochmals eines der damals verwendeten Bilder.  
Wenn in unserem einem Gedankenexperiment jedes Zwischengitteratom oder jede Leerstelle auf einen beliebigen Nachbarplatz springt, hat sich weder ihre Zahl, noch die statistische Verteilung geändert; die freie Enthalpie des ganzen Kristalls - des Systems - bleibt unverändert im Minimum.  
Falls wir nun die Temperatur erniedrigen, muß jetzt für Gleichgewicht die Konzentrationen der atomaren Fehlstellen fallen. Da sie sich nicht einfach auflösen können, kann das nur geschehen, indem sie an "größeren" Defekten wie Korngrenzen oder Versetzungen absorbiert werden, oder sich zusammenballen, d.h. eine Ausscheidung bilden.  
Und dazu dürfen sie sich nicht nur bewegen, sondern wie oben schon festgehalten, sie müssen es tun!  
Das Herumhüpfen von atomaren Defekten im Gitter ist aber immer derselbe Elementarprozeß - ein Zwischengitteratom "weiß" nicht, ob sein Kristall im Gleichgewicht ist oder nicht; es hüpft einfach so durchs Gitter wie es seine lokalen Bedingungen erlauben. Trifft es dabei zufälling auf eine Korngrenze etc,. bleibt es hängen und verschwindet. Damit wird sich die Konzentration allmählich abbauen.  
     
Nun müßte sich eine wichtige Frage aufdrängen: Exakt dasselbe wird ja auch im Geichgewicht geschehen! Die Konzentration der atomaren Defekte baut sich ab, falls sie im Gitter herumhüpfen. Wie kann dann Gleichgewicht , d.h. konstante Konzentration aufrecht erhalten werden?
Exakt so wie beim Girokonto, aus dem immer ein gewisser Betrag pro Zeiteinheit abgehoben wird. Wir haben immer ein dynamisches Gleichgewicht - was geschieht ist, dass genau so viele atomare Defekte pro Zeiteinheit erzeugt werden, wie verschwinden.
Wer jetzt schon etwas genauer wissen will, wie die Erzeugung und Vernichtung von z.B. Leerstellen in realen Materialien wirklich geschieht, betätigt den Link.
Im folgenden werden wir uns praktisch nur mit diesem einem Elementarprozeß, dem Platzwechsel von Leerstellen, Zwischengitteratomen oder anderen Teilchen beschäftigen. Das sieht zwar zunächst nach einer großen Einschränkung der Gesamtthematik aus, wird aber doch unverhofft weit führen.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)