4.1.2 Nulldimensionale Defekte

Arten und Bezeichnungen

Der gebräuchliche Name für nulldimensionale Defekte ist "Punktfehler", auf englisch "Point defects".
Puristen lehnen diese Bezeichnung ab, da diese Defekte zwar kleine, aber durchaus endliche Ausdehnungen haben, also keine Punkte sind - man wählt dann die Bezeichnung "atomarer Defekt"; abgekürzt AF. Die Liste der prinzipiell möglichen atomaren Defekte ist (für Elementkristalle) schnell erstellt.
Es gibt dabei zwei Haupttypen: Intrinsische und extrinsische atomare Defekt, je nachdem, ob die Defekte ohne Hilfe von außen erzeugt werden können, sozusagen aus einem gegebenem pefekten Kristall heraus (dann sind sie intrinsisch) oder ob man von außen (extrinsisch) eingreifen muß.
Intrinsisch und extrinsisch sind Fremdwörter, die uns noch oft begegenen werden, sie bedeuten: aus dem Innern, von innen kommend, von innen bewirkt; bzw. aus dem Äußern,... .
Die beiden Grundtypen der intrinsischen Defekte sind:
 
Leerstelle
Die Leerstelle, oder, gebräuchlicherweise auf englisch, "vacancy"; abgekürzt immer mit V (nicht mit V = Vanadium verwechseln!)
Ein Atom fehlt. Die restlichen Atome werden natürlich nicht starr am Platz sitzen bleiben, wie in der Graphik gezeigt, sondern sich etwas in Richtung auf die Lücke zu festsetzen.
   
Zwischengitteratom
Das Eigenzwischengitteratom (gelegentlich abgekürzt mit ZGA), oder, gebräuchlicherweise auf englisch "self-interstitial"; abgekürzt dann "i".
Ein Atom der Sorte aus denen der Kristall besteht sitzt "auf Lücke" zwischen den regulären Atomen.
Wie schon früher,, muß hier mal wieder darauf hingewiesen werden, daß die blauen Kreise in den Bildchen nicht die Atome repräsentieren - die müßten sich "berühren". Allerdings hätten wir dann Probleme, ein ZGA zu "zeichnen".
   
Extrinsische atomare Defekte kann man mit Hilfe einer anderen Atomsorte konstruieren: Wir setzen einfach ein "falsches" Atom in einen Kristall. Das kann man auf zwei Arten tun:
 
Substitutionelles Fremdatom
Ein reguläres Atom des Kristall wird gegen ein Fremdatom ersetzt oder substitutioniert.
Wir bekommen als atomaren Defekt ein substitutionelles Fremdatom.
   
Interstitielles Fremdatom
Ein Fremdatom wird ins Zwischengitter gezwängt.
Wir erhalten ein interstitielles Fremdatom.
   
Soweit ist das elementar und einfach zu begreifen. Es wird aber sofort komplizierter wenn man sich folgende Fragen stellt (und ansatzweise beantwortet):
Wie ist das, wenn man nicht einen einfachen kubischen Elementkristall, sondern einen komplizierteren Kristall betrachtet? Gibt es u.U. verschiedene Arten von Leerstellen und Zwischengitteratomen - je nachdem wo man ein Atom entnimmt oder einsetzt?
Die Antwort ist: Ja!
Wie ist das bei Kristallen aus verschiedenen Atomsorten? Gibt es da noch andere atomare Defekte über die hier auch anwendbare Komplikation von oben hinaus?
Die Antwort ist ein überschwengliches Ja! Im GaAs, z.B. müssen wir auf jeden Fall noch die "Antidefekte" betrachten, d.h. ein Ga Atom auf einem As Platz und umgekehrt! Auch beim Einbau von Fremdatomen müssen mehrere Möglichkeiten unterschieden werden.
Wie ist das in Ionenkristallen? Dort sind die Atome geladen; gilt das auch für die AF?
Die Antwort ist Ja: Leerstellen und Zwischengitteratome sind geladen; da die Nettoladung des Kristalls aber Null sein muß, kann eine Defektsorte nicht alleine auftreten. Entweder gibt es für ein geladenes ZGA irgendwo eine entgegengesetzt geladene Leerstelle. Die beiden AF zusammen nennt man dann Frenkel - Defekt, oder, falls die Ladungskompensation durch eine zweite, entgegengesetzt geladene Leerstellen erfolgt, Schottky Defekt.
Alternativ können die Ladungen von AF auch durch freie Elektronen kompensiert werden - z.B. in Halbleitern.
Ab welchen Konzentrationen von z.B. Ag als substitutionelles Fremdatom in Au redet man nicht mehr von einem Goldkristall mit einem atomaren Defekt, sondern von einer Au-Ag Legierung?
Die Antwort ist: Das kommt darauf an... . Es gibt keine harte Definition; die Grenze liegt unter etwa 1% Fremdatome. Man spricht von Austauschmischkristallen wenn die beiden Atomsorten im betrachteten Konzentrationsbereich auf Gitterplätzen sitzen, von Einlagerungsmischkristallen, wenn eine Atomsorte im Zwischengitter der anderen sitzt. Ob man Fe mit etwa 1% Kohlenstoff nun als Fe mit C-Zwischengitteratomen, oder als Fe(C) Einlagerungsmischkristall oder als Stahl bezeichnet, ist bis zu einem gewissen Grad Geschmackssache,
Könnte es sein, daß atomare Defekte, z.B. Leerstellen, integraler Teil eines Kristalls sind? Daß z. B. eine Würfelecke in einem kubischen Kristall mit komplizierter Basis grundsätzlich frei bleibt; die Leerstelle sozusagen Teil der Basis ist?
Die Antwort ist prinzipiell: Ja! - ein Beispiel findet sich im Link.
Wann ist ein atomarer Defekt kein atomarer Defekt mehr, sondern ein dreidimensionaler Defekt? Die Doppelleerstelle (zwei Leerstellen nebeneinander) ist, das Wort sagt es schon, noch ein atomarer Defekt; die Dreifachleerstelle auch; aber wie ist das mit der 10-fach Leerstelle? Irgendwann ist das ein Loch oder Hohlraum (englisch: Void) im Kristall und damit doch ein dreidimensionaler Defekt?
Die Antwort ist: Auch das ist nicht exakt definiert. Es aber auch nicht so wichtig, denn in der Praxis kommen die unklaren Zwischenstadien kaum vor.
Sind atomare Defekte immer so simpel strukturiert wie in den Graphiken dargestellt?
Die Antwort ist: Meistens wohl ja, aber nicht immer. Über die exakte Struktur des Eigenzwischengitteratoms in fcc Metallen gab es einen jahrzehntelangen erbitterten Streit zwischen zwei Denkschulen, und im Si gibt es Hinweise, daß bei hohen Temperaturen das Eigenzwischengitteratom "ausgeschmiert" ist, d.h. daß in einem Volumen das im perfekten Kristall von ca.10 Atomen eingenommem wird jetzt 11 Atome sitzen; diese sind aber "verschmiert", so daß man nicht eines von diesen Atome als ZGA bezeichnen kann.
Mit diesem Fragenkatalog kommt man sehr schnell in den Bereich der laufenden Forschung. Wir wollen das hier aber nicht vertiefen. Wer etwas mehr dazu wissen will, schaut in das Einleitungskapitel des Hyperskripts "Defects in Crystals"
Zwei Fragen müßten sich jetzt aufdrängen:
1. Gibt es in gebräuchlichen Kristallen überhaupt atomare Fehlstellen in nennenswerten Konzentrationen? Genauer gefragt: Was bestimmt die Konzentration von atomaren Defekten in einem gegebenen Kristall?
2. Sind atomare Defekte wichtig? Für technische Zwecke oder auch "nur so"?
Die Antwort auf beide Fragen ist ein eindeutiges Ja! Ohne atomare Fehlstellene in Si gäbe es z.B. keine Halbleitertechologie. Schauen wir uns zunächst die Herkunft atomarer Fehlstellen an
 
Herkunft atomarer Fehlstellen
   
Bei extrisischen AFs in einem gegebenen Kristall ist die Herkunft klar: Die als AF vorliegenden Fremdatome stammen aus:
Dem Rohmaterial - d.h. sie waren schom im Ausgangsmaterial vorhanden. Da es keine 100% reine Substanzen gibt, wird jedes Material unvermeidlich immer ein bißchen "Dreck" auch in Form atomarer Fehlstellen enthalten.
Der Bearbeitung des Materials. Vom Rohmaterial (z.B. ein Stück Stahlblech) bis zum Produkt (ein Kotflügel) führen immer einige Bearbeitungsschritte. Dabei ist grundsätzlich möglich, daß sich der Gehalt an extrinsischen AF ändert. Der Frage, wie das geschehen kann, widmen wir uns etwas später.
Bei diesen beiden Möglichkeiten kann man noch unterscheiden, ob die extrinsischen AF absichtlich oder unabsichtlich in das Material eingebracht wurden. Bei den unabsichtlich vorhandenen AF muß man weiterhin fragen, ob sie möglicherweise, ohne daß der Anwender das wußte, für die Funktion des Materials wichtig waren?
Dazu zwei, für manchen vielleicht überrachende Bemerkungen:
Die Manipulation atomare Fehlstellen im weitesten Sinne ist die Grundlage vieler Technologien. Die 1. industrielle Revolution basiert zum Beispiel sehr stark auf der großtechnischen Beherrschung von Stahl - im Gegensatz zu Schmiede- oder Gußeisen - und damit auf der Beherrschung des interstitiellen Fremdatoms Kohlenstoff im Eisen (bei gleichzeitiger Vermeidung einiger anderer extrinsischen AF). Mehr dazu im Link "Geschichte des Stahls". Bei der 2. industriellen Revolution, die wir gerade erleben, ist das nicht anders. Alle Halbleiterbauelemente beruhen auf der Beherrschung von Defekten; insbesondere aber der atomaren Fehlstellen. Auch in vielen anderen Technologien spielen AF eine herausragende Rolle.
Atomare Fehlstellen sind oft auch dann für wichtige Eigenschaften eines Materials (mit)verantwortlich, wenn der Anwender das gar nicht weiß. Es gibt viele Beispiele auch aus jüngster Zeit, wo eine unbewußte Änderung der Reinheit eines Materials (also weniger oder mehr extrinsische AF gegenüber dem alten Zustand) weitgehende bis dramatische Folgen für ganze Produktionsabläufe hatte. Einige Beispiel dazu in den Links "Und sie wissen nicht (immer) was sie tun" und "Loosing Large Amounts of Money with Wet Chemistry".
Wo kommen die intrinsischen AF her? Die Antwort wird uns tief in die statistische Thermodynamik führen und uns in Kapitel 5 lange beschäftigen. Hier nur soviel:
Ein Kristall enthält im thermodynamischen Gleichgewicht immer eine bestimmte Anzahl von intrinsischen AF; sie gehören untrennbar zu seiner Struktur. Ihre Konzentration n ist gegeben durch folgende Formel, die wir in Kap 5 erarbeiten werden:
n  =  a · exp – E
kT
Mit a = Kostante » 1 cm–3, E = eine für den spezifischen Defekt typische Bildungsenergie » (0,5 - 2) eV für Leerstellen und » (2 - 5) eV für ZGA.
Die Konzentration von Leerstellen und Eigenzwischengitteratomen steigt also exponentiell mit der Temperatur; nur bei T = 0 K wäre sie exakt Null. Am Schmelzpunkt - das ist eine Faustregel - liegt die Konzentration an Leerstellen in Metallkristallen bei » 10–4 » 0,1 %.
Die Konzentration von Eigenzwischengitteratomen ist i.d.R viel niedriger als die Leerstellenkonzentration; so daß sie meist vernachlässigt wird.
In anderen Kristallen - z.B. in Halbleitern - kann die max. Konzentration am Schmelzpunkt noch einige Größenordnungen kleiner sein.
Wieso können einige wenige AF so wichtig sein? Die Antwort ist vielfältig; herausragend ist aber die Bedeutung der AF für die Diffusion von Atomen in einem Kristall.
 
Atomare Fehlstellen und Diffusion
   
Die Bedeutung der Diffusion, d.h. der Bewegung von Atomen in Kristallen für die Technologie kann kaum überschätzt werden.
Betrachten wir als Beispiel die Standardaufgabe der Halbleitertechnik, die Herstellung eines MOS-Transistors. Folgende (stark vereinfachte) Struktur soll hergestellt werden
Querschnitt durch einen einfachen MOS Transistor
Entscheidend ist, daß der (hellblau gezeichnete) Si-Kristall ganz bestimmte substitutionelle Fremdatome enthält - die roten Punkte markieren z. B. Phosphor Atome, die blauen Punkte Bor Atome in Konzentration um 1 ppm.
Diese Fremdatome müssen bei der Herstellung des Transistors in die richtigen Bereiche des Kristall in der richtigen Konzentration eingebracht werden - aber wie?
Sie können nur1) von außen kommen, d.h. sie müssen durch die Oberfläche in den Kristall hinein diffundieren. Wie geht das? Der Kristall ist ja ein geschlossenes Gebilde; Atome können da nicht so einfach durchwandern. Wir haben eine Situation wie im nächsten Bild gezeigt
Diffusion über Leertellen
Oben links ist die Ausgangssituation gezeigt. Zwei rote Phosphoratome sitzen auf der Oberfläche und sollen ins Innere.
Das geht erst, wenn mal eine Leerstelle "vorbeikommt" (mittleres Bild).
Das rechte Bild zeigt dann die Situation etwas später. Die beiden Atome sind ewas ins Innere gewandert, sitzen aber immer fest, bis mal wieder eine Leerstelle vorbeischaut!
Der Kristall ist dabei noch viel geschlossener als hier aus Gründen der Übersichtlichkeit gezeichnet. Die Kugeln müßten sich ja berühren, oder sogar ein bißchen durchdringen, wenn richtige Bindungen vorliegen.
Gezeigt ist der Leerstellenmechanismus der Diffusion. Nur über diesen Mechanismus ist die Bewegung von Atomen auf Gitterplätzen möglich. In der Regel werden die Atome des Kristalls selber in ein benachbarte Leerstelle springen - man spricht dann vonn Selbstdiffusion - aber hin und wieder gelingt das auch der kleinen Minorität der substitutionellen Fremdatome. Das ganze kann im Link "Diffusionsmechanismen" animiert betrachtet werden.
Die Leerstelle selbst muß dabei notwendigerweise auch beweglich sein. Sie sitzt nicht immer am selben Platz, sondern bewegt sich durch das Kristallgitter in völlig statistischer Weise - sie diffundiert indem Gitteratome mit ihr den Platz wechseln.
Damit wird klar, daß die Diffusiongeschwindigkeit, mit der sich ein Phosphoratom im Si Gitter bewegen kann (oder jedes andere substitutionelle Fremdatom in jedem anderen Gitter) im wesentlichen davon abhängt wie hoch die Leerstellenkonzentration ist und wie schnell sich die Leerstellen selbst bewegen.
Die entscheidende Größe für die Mobilität eines Fremdatoms ist seine Sprungfrequenz, d.h. die (mittlere) Zahl von Sprüngen pro Sekunde mit der (im Mittel) sich eine Leerstelle auf einem Nachbarplatz bewegt.
Die Diffusion von interstitiellen Fremdatomen kommt dagegen ohne Leerstellen aus. Hier hüpfen die Atome direkt von einem Zwischgitterplatz zum nächsten - beobachtbar im Link "Diffusionsmechanismen". Interstitielle Fremdatome diffundieren deshalb häufig schneller als die substitutionellen.
Fragebogen
Multiple Choice Fragen zu 4.1.2

1) Keine Regel ohne Ausnahmen. Bei der sogenannten "Neutron transmutation doping" Technik, werden substitutionelle Phosphoratome im Si dadurch erzeugt, dass man den Si Kristall für einige Zeit in einen Kernreaktor hängt; durch die dort vorhanden Neutronen werden Si Atome umgewandelt ("transmutated") in P Atome. Obwohl das etwas abwegig scheinen mag, handlet es sich doch um eine etablierte und benutzte Technik.


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© H. Föll (MaWi 1 Skript)