4.1.4 Versetzungen und plastische Verformung

Aber jetzt zum Dreh- und Angelpunkt der Bedeutung von Versetzungen für die Menschheit. Wir werden dies in Kap. 8 noch ausführlicher behandeln, hier geht es um das Prinzip.
Hier noch einmal die entscheidende Ausage:
Plastische Verformung aller Kristalle erfolgt ausschließlich durch die Erzeugung und Bewegung von Versetzungen
Die Umkehrung ist auch richtig: Will ich plastische Verfomung verhindern, muß ich die Erzeugung und (wichtiger) die Bewegung von Versetzungen verhindern.
Aber nicht immer und hundertprozentig - denn sonst hätte ich ein sprödes Material - sondern so daß ich maximale "Härte" (=Widerstand gegen plastische Verfomrung) kombiniere mit einem Rest an Duktilität=plastische Verformbarkeit.
Das Paradigma dazu war jahrtausendelang das "magische" Schwert; heutzutage ist es die Autokarrosserie (und der Golfschläger!).
Selbstverständlich ist plastische Verformbarkeit außerordentlich nützlich, um ein bestimmtes Teil herzustellen (Kotflügel etc., z.B. durch Pressen). Aber auch Glas könnte man (bei höherer Temperatur) in die Form eines Kotflügels oder Schwerts pressen; trotzdem haben Glasschwerter keine Bedeutung erlangt.
Denn plastische Verformbarkeit ist auch beim fertigen Produkt, das sich eigentlich nicht mehr verformen soll, eminent praktisch: Das Stahlschwert bricht eben nicht, wenn man auf ein anderes Stahlschwert haut, sondern hat allenfalls eine kleine Macke (=lokale plastische Verformung). Schlecht, aber allemal besser als der beim Glasschwert sichere Bruch. Bei Kotflügeln etc. gilt dasselbe Prinzip.
Plastische, d.h. bleibende Verfomung heißt, daß sich ein Kristall nach Einwirkung einer Kraft bleibend verformt hat. Das gilt z. B. für einen Kotflügel, nachdem man gegen einen Baum gefahren ist - der Metallkristall hat jetzt eine ander Form als vorher. Der Baum selbst, falls man ihn nicht gefällt hat, hat sich i.d.R. elastisch verformt (von den Verletzungen der Rinde abgesehen). Er ist nach Wegnehmen der Kraft wieder in der vorherigen Gestalt.
Plastische Verformung bedingt zwangsläufig, daß Teile eines Kristalls sich gegenüber anderen Teilen verschoben haben. Einige Atome sind nicht mehr dort, wo sie früher waren. Die damit verbundenen bleibenden Verschiebungen der Atome werden immer durch den Durchlauf von Versetzungen durch den Kristall erzeugt.
Betrachten wir z.B. Bild 2a als einen Zustand, bei dem die durch den Schnitt definierte Versetzung von der orangefarbigen Oberfläche aus in den Kristall hineingelaufen ist, so wäre nach weiterem Durchlaufen der Versetzung "nach hinten", der obere Teil des Kristall gegenüber dem unteren um genau einen Burgersvektor verschoben sobald die Versetzung an der Rückseite austritt.
Das schauen wir uns genauer an
Im ersten Schritt legen wir eine "Scherspannung" an, die den oberen Teil des Kristalls gegenüber dem unteren Teil nach links verschieben möchte.
Solange die Spannung nicht zu groß ist, wird der Kristall sich nur elastisch verformen. Nach Überschreitung einer bestimmten Größe, der Fließspannung oder Fließgrenze, bildet sich jedoch eine Stufenversetzung, die in der gezeigten Weise durch den Kristall wandert. Auf der linken Seite hat sich eine Stufe gebildet; die Höhe der Stufe ist durch den Burgersvektor der Versetzung gegeben.
Nach Durchqueren des Kristalls hat sich auch auf der rechten Seite eine Stufe gebildet. Der Nettoeffekt des Durchgangs der Versetzung ist die Abgleitung der oberen Kristallhälfte relativ zur unteren um einen Burgersvektor.
Warum so kompliziert, wenn es eigentlich auch einfach geht? Warum rutscht die obere Kristallhälfte nicht einfach geschlossen nach links? Die Antwort werden wir uns in Kapitel 8 noch genauer anschauen: hier nur soviel: Dazu müßten erheblich höhere Kräfte wirken - man muß ja sehr viele Bindungen gleichzeitig lösen; mit einer Versetzung sind es viel weniger.
Im täglichen Leben ist das ein bekannter Effekt. Oft gelingt die Bewegung eines Körpers relativ zu einem anderen viel besser, wenn ein "Defekt" erzeugt wird, der durch den Körper läuft. Nachfolgend ohne Kommentar drei Beispiele.
Teppichverrücken mit Falte Raupe ("Inchworm") Wurm
Wie kann eine makroskopische Verformung in alle drei Raumrichtigen (Kotflügel!) durch Versetzungen entstehen, wenn eine Versetzung gerade mal eine Verformung um Bruchteile eines Nanometers bewirkt? Die Antwort ist klar:
1. Es müssen sehr viele Versetzungen zusammenwirken, und
2. Sie müssen auf vielen verschiedenen Ebenen durch den Kristall laufen.
Das wird uns in Kapitel 8 noch beschäftigen, hier wollen wir noch ein Maß für die Menge an Versetzungen in einem Kristall definieren, die Versetzungdichte r. Wir nehmen dafür einfach die Gesamtlänge aller Versetzungen in einem cm3des Kristalls, so daß gilt
r  =  Gesamtlänge Versetzungen
Volumen Kristall

[r]  =  cm 
cm3
 =  cm–2
Die Dimension von r darf einen nicht in die Irre führen - es sind cm pro cm3! Die durch 1/cm2 insinuierte Flächendichte hat jedoch auch einen Sinn - dazu eine Übungsaufgabe.
Übung 4.1-2
Versetzungsdichten - Definitionen und Messung
Wie groß sind Versetzungsdichten in normalen Kristallen? Die Antwort mag überraschen: man findet eine Bandbreite von 0 cm–2 bis zu 1012 cm–2! Beispiele dazu:
Versetzungsfreies Silizium - das Basismaterial für die Siliziumtechnologie: r=0 cm–2
Es gibt auch noch versetzungsfreies Ge, sonst haben alle Kristalle (mit Ausnahme mikroskopisch kleiner) immer eine endliche Versetzungsdichte.
"Gute" Einkristalle (fürs Labor gezüchtet): r » (103 - 105) cm–2.
Normale Kristalle inkl. Polykristalle: r » (105 - 109) cm–2.
Stark verformte Kristalle: r=bis 1012 cm–2.
Wenn man sich vor Augen hält, daß eine Versetzungsdichte von 1010 cm–2 bedeutet, daß in einem cm3 Kristall insgesamt 1010 cm=100 000 km Versetzungen stecken, wird begreiflich, warum sich selbst große makroskopische Verformungen durch die winzigen Verschiebungen der Einzelversetzung darstellen lassen.
Zum Schluß ein Bild aus dem Transmissionselektronenmikroskop (TEM), mit dem man bei hoher Vergrößerung durch dünne (d.h. Dicke » 1 µm) Kristalle hindurchsehen, und dabei Versetzungen direkt sichtbar machen kann. Die dreidimensionale Versetzungsstruktur wird dabei projeziert dargestellt.
Viele weitere Beispiele sowie das "Funktionsprinzip" der Elektronenmikroskopie für diesen Fall finden sich im Link.
Fragebogen
Multiple Choice Fragen zu 4.1.4

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)