4.1.5 Flächenhafte Defekte

Die Oberfläche und die Oberflächenenergie

Wir haben bereits diskutiert, daß die Oberfläche (oder genauer die Grenzfläche Material - Umgebung) als Kristalldefekt behandelt werden muß. Bei der Oberfläche ist leicht einsichtig, daß sie einen eigenen Energiebeitrag in die Energiebilanz des Kristalls einbringt. Die Atome auf der Oberfläche haben andere Bindungsverhältnisse als Atome im Inneren des Körpers, und damit auch andere energetische Bedingungen.
Die Angabe einer Oberflächenenergie g ist sinnvoll, mit g = Energie der Oberfläche/cm2 = Energieaufwand, der benötigt wird um 1 cm2 neue Oberfläche zu schaffen.
Die Oberflächenenergie vergößert sich um 2g
Typische Oberflächenenergien (nach Barett) sind z.B.:
g(Glas) = 300 erg/cm2 = 3 00 mJ/m2
g(Fe) = 2100 erg/cm2 = 2 100 mJ/m2
(Leider werden Grenzflächenenergieen noch gerne in den alten cgs Einheiten angegeben. Die Unrechung auf SI Einheiten ist aber in der gezeigten Weise einfach. Dabei ist 1 erg = 10–7 J; d.h. 1 erg/cm2 = 1 mJ/m2).
Das sind aber relativ unanschauliche Zahlen, deshalb wollen wir in einer Übungsaufgabe ein etwas intimeres Verhältnis zu diesen Werten bekommen
Übung 4.1-3
Grenzflächenenergien pro Atom
Alle zweidimensionalen Defekte fallen unter die oben schon angedeutete Definition, die wir jetzt verallgemeinern wollen.
 
Flächenhafte Defekte = Grenzflächen
   
Jeder flächenhafte Defekt ist eine Grenzfläche zwischen zwei Körpern; man kann dem Defekt auch immer eine Grenzflächenenergie analog der Oberflächenenergie zuschreiben. Der Sprachgebrauch ist aber oft schlampig bzw. beschreibt komplizierte Dinge in einem Wort, das dann eine Art Oberbegriff ist.
Wenn man z.B. von der Oberfläche eines Si-Kristalls spricht, redet man von einem Gebilde, das die Grenzfläche des Siliziumkristalls zu dem sich an Luft gebildeten etwa 2 nm dicken SiO2 und die Grenzfläche des SiO2 mit der Luft umfaßt. Eine Grenzfläche Si - O2/N2 gibt es nicht, da sofort eine Oxidation erfolgt und sich SiO2 bildet.
Wohldefiniert ist dagegen die Grenzfläche Si - (Ultrahoch)vakuum. Daß die Oberfläche ein Defekt ist, wird insbesondere bei der {111} Oberfläche in diesem Fall sehr deutlich, da sich die Oberflächenatome völlig neu anordnen, um die Oberflächenergie zu minimieren. Mit dem Rastertunnelmikroskop kann man das (im Link) direkt sehen: Die Anordnung hat keinerlei Ähnlichkeit mit der {111} Ebene eines Diamantgitters. Auf anderen Ebenen treten ebenfalls solche Reorganisationen auf, aber nicht so ausgeprägt wie auf der {111} Oberfläche.
Je nach Art der sich entlang der Grenzfläche berührenden Körpern spricht man abgesehen von der Oberfläche im wesentlichen von folgenden zweidimensionalen Defekten:
Phasengrenze:
Grenzfläche zwischen zwei verschiedenen (im Sprachgebrauch i.d.R. festen) Körpern.
Korngrenze:
Grenzfläche zwischen identischen, aber zueinander beliebig orientierten Kristallen.
Stapelfehler:
Grenzfläche zwischen zwei identischen und sehr speziell zueinander orientierten Kristallen.
     
Phasengrenzen und Korngrenzen
   
Phasengrenzen sind wohl die häufigsten und für unser Zwecke sehr leicht zu verstehende Defekte. Allerdings sollten wir den Begriff "Phase" noch definieren:
Unter einer Phase wollen wir einen homogenen, unterscheidbaren und (im Prinzip) mechanisch abtrennbaren Teil eines gegeben Materials mit gegebener chemischer Zusammensetzung verstehen.
Phasengrenzen umfassen eine Unzahl von möglichen Grenzflächen - zum Beispiel die Grenzfläche zwischen kristallinem und amorphen Silizium, zwischen Si und SiO2 oder Pd2Si (Palladiumsilizid), oder .... Aber auch die Grenzflächen zwischen dem Fe - Kristall und den eingelagerten kleinen Graphitpartikeln des Gußeisens, den Glasfasern und dem Epoxyharz der glasfaserverstärkten Kunststoffe, zwischen den Glimmer- und Feldspatteilchen des Granits oder den Bestandteilen von Beton sind Phasengrenzen.
Wir sind daran gewöhnt, daß die meisten Materialien des täglichen Lebens Phasengrenzen enthalten und daß die Phasengrenzen viele Eigenschaften bestimmen. Über diese Phasengrenzen denken wir gar nicht nach: ihre Eigenschaften sind empirisch mehr oder weniger bekannt.
Nicht allgemein bekannt ist, daß auch einige Hochtechnologieprodukte sehr stark von den Eigenschaften ihre Phasengrenzen dominiert werden; darunter fallen z.B. viele optoelektronische Bauelemente oder Festkörpersensoren. Die exakte Struktur der Phasengrenzen und insbesondere die Vermeidung bestimmter struktureller Eigenheiten in diesen Defekten ist von überragender Bedeutung für die Produkte und Objekt großer Forschungsanstrengungen.
Zwei Bilder im Link sollen die mögliche Komplexität von Phasengrenzen illustrieren ohne daß wir uns in Details verwickeln. Wer mehr wissen möchte; kann einen Blick in das Hyperskript "Defects werfen.
Die Phasengrenze zwischen zwei Kristallen identischer Bauart aber verschiedener Orientierung, heißt Korngrenze, ihre Geometrie ist damit verständlich. Ein Schemabild zeigt sofort, daß die einzelne Korngrenze dabei beliebige Orientierungen im Raum haben kann.
Hier eine schematische (zweidimensionale) Darstellung von Kristallkörnern in willkürlicher Form mit den zugehörigen Korngrenzen, der Phasengrenze zu einer Ausscheidung und der Oberfläche.
Korn- und Phasengrenzen
Korngrenzen sind per definitionem die (meist beherrschenden) Defekte in Polykristallen, während sie - ebenfalls per definitionem - in Einkristallen nicht vorkommen. Fast alle natürlicherweise vorkommenden Kristalle sind Polykristalle; Einkristalle sind selten und dann oft kostbar; man denke an die Edelsteine.
Künstlich hergestellte Einkristalle sind zwar nicht selten, aber trotzdem kostbar. Von überragender Bedeutung sind die Silizium Einkristalle, der Grundstoff der Mikroelektronik, mit einem Markt im Jahre 1999 von ca. $ 8 · 109 pro Jahr. In der Optoelektronik gilt dasselbe für GaAs und verwandte Kristalle.
Weiterhin werden Einkristalle aller Arten für viele Anwendungen in der Optík gebraucht. Aber auch besonders leistungsfähige (und treibstoffsparende) Flugzeugturbinen benötigen einkristalline Schaufeln aus einer Ti - Legierung.
Man erkennt an den Beispielen, daß Korngrenzen die Eigenschaften eines Materials sehr stark beeinflussen können, sonst würde man sich ja nicht die Mühe machen teure Einkristalle für technische Zwecke zu "züchten". Das heißt aber nicht, daß Korngrenzen immer "schlechte" Defekte sind. Je nach Anwendung eines Materials können sie nützlich oder schädlich sein.
Die atomare Struktur von Korngrenzen ist sehr kompliziert; das soll uns aber hier nicht interessieren. Auf jeden Fall haben Korngrenzen als innere Grenzflächen eine Grenzflächen- oder Korngrenzenenergie; sie liegt ganz grob (z.B. für Si) in der Größenordnung von 300 erg/cm2 = 300 mJ/m2.
Da diese Korngrenzenenenergie stark von der exakten Geometrie abhängen kann (d.h. der relativen Orientierung der beiden Kristalle zueinander und der kristallographischen Ebenen der Korngrenze in einem der Kristalle), und das Prinzip der Energieminimierung immer noch gilt, findet man in realen Kristallen häufig ganz bestimmte Korngrenzen (sog. Zwillingskorngrenzen) mit besonders niedriger Energie (z.B. ca. 50 mJ/m2 statt ca. 300 mJ/m2 im Silizium).
Dies führt uns zu weiteren speziellen flächenhaften Defekten, den Stapelfehlern, die mit den Zwillingskorngrenzen eng verwandt sind.
 
Stapelfehler
   
Stapelfehler entstehen in unserer prinzipiellen Definition, wenn man zwei durch ihre Stapelfolge definierten Kristalle entlang einer Grenzfläche so zusammensetzt, daß beide Kristall zwar exakt gleich orientiert sind, an der Nahtstelle aber die Stapelfolge nicht stimmt. Wir machen uns dies in einem Gedankenexperiment klar:
Wir betrachten den durch die Stapelfolge
ABCABCABCABC... definierten fcc - Kristall
Wir schneiden den Kristall auf einer der Stapelebenen in 2 Hälften und erhalten zwei Kristalle, z.B.
ABCABCA und BCABCABC...
Wir fügen die Kristalle wieder zusammen, aber so, daß die erste (= linke) Lage des 2. Kristalls (die B-Lage in der früheren Nomenklatur) jetzt die im Kristall mögliche 2. Alternative wahrnimmt, d.h. bezüglich der Nomenklatur im 1. Kristall zur C-Lage wird. Entsprechend wird aus der alten C - Lage dann die A - Lage und aus der A - Lage die B - Lage. Dazu müssen wir unseren 2. Kristall (in der Schnittebene) etwas verschieben (genau gesagt um einen Vektor des Typs a/6<112>).
Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man in einem leicht modifizierten 2. Rezept die B-Lage des 2. Kristalls gedanklich abschält und wegwirft, und die beiden Kristalle dann ohne Verschiebung wieder zusammenführt.
Was wir in beiden Fällen bekommen ist der Kristall
ABCABCACABCABCABC...
Dieser Kristall enthält ersichtlich einen flächenhaften Fehler, eben einen Stapelfehler. Der in der Stapelfolge gezeigte Defekt ist aber nicht der einzige möglich Typus von Stapelfehlern. Das Rezept läßt sich auf alle Kristalle anwenden, die über das Stapeln von Ebenen definiert werden können (und das sind letztlich alle) und außerdem noch erweitern. Wir schauen uns eine Erweiterung für fcc Kristalle an:
Wir schließen an das 2. Rezept von oben an, schneiden eine Stapelfolge irgendwo auf, werfen aber nicht die erste Ebene des 2. Kristall weg, sondern fügen eine zusätzliche Ebene ein. Das sieht für fcc Kristalle so aus:
ABCABCABCABC.... + Schnitt =
ABCABC und ABCABCABC... . Ebene einfügen ergibt
ABCABC und BABCABCABC... . Nach Zusammenfügen haben wir
ABCABCBABCABC.
Da wir keine Kopf-auf-Kopf Situation zulassen, konnte nur eine B - Ebene eingefügt werden.
Schauen wir uns das mal an
Stapelfolge perfekter Kristall Intrinsischer 
Stapelfehler Extrinsischer 
Stapelfehler
Das perfekt fcc - Gitter in <110> Projektion Eine C - Ebene fehlt, wir haben einen intrinsischen Stapelfehler Eine A - Ebene ist zusätzlich enthalten, wir haben einen extrinsischen Stapelfehler
Die zwei Stapelfehler unterscheiden sich deutlich; zur Unterscheidung werden sie intrinsisch oder extrinsisch genannt, je nachdem ob eine Ebene fehlt oder zuviel ist
Diese Bezeichnung hat einen Sinn, der sich uns im nächsten Unterkapitel erschließt.
Stapelfehler scheinen etwas "künstliches" zu sein. Deshalb nehmen wir hier erstmal nur zur Kenntnis:
Stapelfehler in dichtestgepackten Kristallen sind sehr prominente Defekte, die sehr häufig auftreten und oft nur schwer zu vermeiden sind.
Stapelfehler und Versetzungen sind insbesondere in fcc Kristallen oft zu etwas neuem kombiniert (einer "aufgespaltenen Versetzung"). Ohne auf Einzelheiten einzugehen, soll doch angemerkt werden, daß die Eigenschaften der Stapelfehler damit sehr stark die Versetzungsmechanik und damit die plastische Verformbarkeit dieser Materialien beeinflußt.
Ein Sorte Stapelfehler in Silizium hat sogar einen eigenen Namen und heißt "Oxidationsinduzierte Stapelfehler" (OSF). Wir ahnen: Diese OSFs, oder besser gesagt ihre Vermeidung, sind sehr wichtig für die Si-Technologie, und außerdem werden sie wohl durch einen Technologieprozeß, die Oxidation, erzeugt.
Zum Schluß noch einen Überblick über die Größenordnung von Grenzflächenenergien. Die Zahlenwerte sollten immer im Zusammenhang mit der Übungsaufgabe von oben gesehen werden!
Typus Ausprägung g [mJ/m2]
Oberfläche W
Fe
Zn
1450
700
380
"Großwinkel"
Korngrenze
Cu, Al » 500
Zwillingskorngrenzen Spezielle Korngrenze,
sehr häufig in fcc Gittern
» 100 .... 200
"Kleinwinkel"
Korngrenze
Durch Versetzungen darstellbar 0 ... 100
Stapelfehler Al
Cu
Au
Cu + 30% Zn
18/8 Edelstahl
fcc Co bei RT
(deshalb ist es hexagonal!)
250
100
10
7
7
<0
Phasengrenzen    
Fragebogen
Multiple Choice Fragen zu 4.1.5

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)