2.1.6 Das Atom und die Chemie

Offenbar steckt in der Konfiguration der Elektronen eine Menge "Chemie". Ein Atom mit einem s1-Elektron, d.h. mit einem einzigen Elektron auf einem beliebigen s-Orbital, ist chemisch sehr reaktionsfreudig; dasselbe gilt für p5-Schalen, d.h. Orbitale die fast gefüllt sind – nur ein Elektron fehlt. Wir merken uns nochmals:
 
Edelgase Gefüllte Orbitale
He 1s2
Ne 1s2 2s2 2p6
Ar 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6
Kr 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6
Xe 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6 4d10 5s2 5p6
Rn 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6 4d104f14 5s2 5p6 5d10 6s2 6p6
Alkali-Metalle Gefüllte Orbitale plus 1 Elektron
Li 1s2 2s1
Na 1s2 2s2 2p6 3s1
K 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 4s1
Rb 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6 5s1
Cs 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6 4d10 5s2 5p6 6s1
Halogene (Gase) Gefüllte Orbitale minus 1 Elektron
F 1s2 2s2 2p5
Cl 1s2 2s2 2p6 3s2 3p5
Br 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p5
J 1s2 2s2 2p6 3s2 3p6 3d10 4s2 4p6 4d10 5s2 5p5
Wer genau hinschaut bemerkt Unstimmigkeiten. Zum Beispiel "fehlen" beim Kalium (K) die 3d-Niveaus. Warum das so ist, wurde schon angedeutet, Details dazu finden sich ein einem eigenen Modul.
Als Regel kann man formulieren:
Atome "wollen gerne" gefüllte Orbitale (oder "Schalen") haben.
Etwas präziser ausgedrückt: Bei gefüllten Orbitalen ist die Energie des Elektronensystems minimal im Vergleich zu benachbarten Konfigurationen mit mehr oder weniger Elektronen. Dadurch besteht keine Tendenz zur Veränderung, d.h. zu einer chemischen Reaktion. Denn:
Die treibende Kraft hinter jeder Veränderung und jeder Reaktion,
ist die damit verbundene Absenkung der Systemenergie
.
Es ist wichtig sich dabei klarzumachen, daß die Energie der Elektronen eines Atoms mit der Schrödingergleichung im Prinzip berechnet werden kann (und wird). Daß wir es in der Realität (noch) nicht können, macht nichts. Jedenfalls steckt in der obigen Regel kein Geheimnis mehr, sondern sie beschreibt nur eine offenkundige (qualitative) Lösung der Schrödingergleichung.
Eine erste Schlußfolgerung wird möglich.
Wenn ein einzelnes Atom keine gefüllten Orbitale hat, das Ideal minimaler Energie also nicht erreicht, könnte es Elektronen abgeben oder aufnehmen um als "zweitbeste" Lösung doch noch gefüllte Orbitale zu bekommen. Dazu braucht es aber Partner, die sein überschüssiges Elektron aufnehmen oder ihm eines abgeben.
Wir stellen also die Frage, ob Partnerschaft zwischen Atomen, ob chemische Bindung, als zweitbeste Lösung in Fragen kommt, wenn "splendid isolation" energetisch nicht günstig ist.
Sind also Elemente, die ein Elektron zuviel haben oder zuwenig haben - die Alkalimetalle bzw. Halogene - geeignete Partner für enge Bindungen?
Die Antwort ist, wir wissen es, ein emphatisches Ja! Alkaliatome und Halogenatome formen gern und oft viele und sehr stabile Verbindungen; z.B. das für uns so wichtige Kochsalz: NaCl. Aber auch andere häufige und wichtige "Salze" wie z.B. LiF, LiCl, KCl, KBr, KJ.
Aber nicht nur die besonders reaktiven Alkali- und Halogenatome, sondern auch andere Atome gehen gerne Bindungen ein. Abgesehen von den Edelgasen tun es alle!
Manche so gerne, daß wir sie in Natur nie allein, d.h. elementar finden, z.B. die Metalle Al, Ti, Fe; aber auch Si oder Ge. Sie alle sind in der Regel oxidiert, d.h. als Verbindung mit Sauerstoff präsent. Andere sind weniger reaktiv und kommen auch "gediegen", d.h. elementar vor: Au, Ag, Pt, Pd, Ir (die Edelmetalle), aber auch z.B. Cu und S. Aber so ganz ohne Partner sind sie selbst dann nicht. Sie sind lediglich homoerotisch und tun sich mit Atomen der eigenen Art zusammen, wie auch die Gase O2, N2, Cl2, ... .
Partnerschaften, oder präziser gesagt, chemische Verbindungen sind also die Regel. Da wir die Materialwissenschaft hier auf feste Körper beschränken wollen, die per definitionem allesamt Verbindungen sind, müssen wir lernen, was Chemie, Physik, und insbesondere die Quantentheorie, an Kernaussagen dazu bereit halten.
Dazu betrachten wir zunächst noch einige meßbare Eigenschaften einzelner Atome, die aber bereits Aussagen über mögliche Bindungen mit anderen Atomen implizit enthalten. Es sind dies die Größen:
Ionisierungsenergie   I

Elektronenaffinität   A

Elektronegativität    X
Um diese Begriffe kennenzulernen, betrachten wir den formalen Weg zweier Atome aus ihrem isolierten Dasein in einem gebunden Zustand. Schauen wir uns dazu eine mögliche Bindungsreaktion am einfachsten Beispiel, dem LiF genauer an.
Wir unterstellen, daß das Li sein überschüssiges Elektron an das F abgibt (dem ein Elektron fehlt), und daß die beiden geladenen Atome (die dann Ionen heißen) sich dadurch fest verbinden - das tun sie dann einfach über die elektrostatische Anziehung. Dabei muß Energie frei werden, die Bindungsenergie, sonst würde der Prozeß nicht von alleine (ohne äußeren Zwang, d.h. Energiezufuhr) ablaufen. Diesen Prozeß kann man in seine einzelnen elementaren Schritte zerlegen, aus denen die Bindungsenergie berechnet werden kann.
Zunächst überführen wir ein Li-Atom in ein Li-Ion, indem wir ihm ein Elektron wegnehmen. Dazu braucht man Energie; von alleine wird es nicht geschehen. Wir schreiben die notwendige Reaktion:
Li   +  5,4 eV   Þ   Li +  +  e
Das heißt in Worten: Einem (elektrisch neutralem) Li-Atom kann durch die Zufuhr (+ Zeichen) von 5,4 Elektronenvolt Energie ein Elektron abgetrennt werden. "Abgetrennt" heißt in der Idealwelt der physikalischen Mathematik, daß das Elektron gegen die elektrostatische Anziehung des jetzt + geladenen Ions ins "Unendliche" gebracht wird; dazu muß man Arbeit verrichten.
Die Energieeinheit "Elektronenvolt" ist dem Bereich des atomaren angemessen, es ist die Energie, die ein Elektron gewinnt, wenn es die Spannung von 1V durchläuft.
Die mehr chemisch geprägte Welt verwendet jedoch nach wie vor die Einheit "kJ/mol". Die Umrechnung ist einfach, wir haben
1 kJ/mol  =  1.0365 · 10–2 eV
     
1 eV  =  96.485 kJ/mol
Da es ein leicht faßlicher Gedanke ist, daß wir jedem Atom mit Gewalt ein Elektron abtrennen können, ist die dafür notwendige Energie die erste Materialkonstante, die wir kennenlernen. Sie heißt Ionisierungsenergie I und ist für jedes Atom definiert.
Die Ionisierungsenergie ist verhältnismäßig leicht meßbar, aber wir behalten im Hinterkopf : Im Prinzip kann sie auch aus der Schrödingergleichung errechnet werden. Einige Werte finden sich im Modul Ionisierungsenergien und Elektronegativität einiger Elemente.
Wie sieht es auf der Fluor Seite aus? Wir gehen am besten vom Wunschzustand aus: Volle Schale heißt, daß ein weiteres Elektron dazu kommen muß. Die entsprechende Reaktion - aus Symmetriegründen "rückwärts" geschrieben - lautet:
F   +  3,6 eV  Þ  F  +  e
Das heißt in Worten: Einem (negativ geladenem) Fluor-Ion kann durch die Zufuhr (+ Zeichen) von 3,6 eV Energie ein Elektron abgetrennt werden; dadurch entsteht ein elektrisch neutrales Fluor Atom. So geschrieben ist die Reaktion immer möglich.
Schreibt man die Reaktion "vorwärts", lautet sie
F + e   –  3,6 eV  Þ  F
In Worten: Beim Anlagern (+ Zeichen) eines Elektrons an ein neutrales Fluor-Atom werden 3,6 eV Energie frei ( Zeichen!) Diese freiwerdende Energie bei Anlagerung eines Elektrons heißt Elektronenaffinität A.
Wir haben aber jetzt ein Problem. Im Gegensatz zur Ionisierungsenergie ist eine (positive) Elektronenaffinität nicht für alle Atome definiert. Denn man kann zwar mit Gewalt jedem Atom ein Elektron wegnehmen, aber man kann Atome nicht zwingen ein zusätzliches Elektron gebunden zu halten.
Formal, oder rein mathematisch gesehen, ist das kein Problem: Die Elektronenaffinität wäre in diesem Falle eine negative Zahl und damit keine Energie mehr die frei wird, sondern eine "Zwangsenergie". Da eine negative Elektronenaffinität aber keinen besonderen Sinn ergibt, ist die Elektronenaffinität nur für Elemente definiert, die eine echte Affinität, ausgedrückt in einer positiven Bindungsenergie zeigen.
Auch die Elektronenaffinität ist verhältnismäßig leicht meßbar, kann aber im Prinzip auch aus der Schrödingergleichung errechnet werden. Einige Werte finden sich in der Tabelle Elektronenaffinitäten einiger Elemente
Ein weiterer Parameter, der die Neigung von Atomen zur Abgabe oder Aufnahmen von Elektronen (d.h. die Neigung zur Ionisierung) beschreibt, soll kurz angesprochen werden, nämlich die Elektronegativität.
Die Elektronegativität ist eine von dem großen Chemiker Linus Pauling eingeführte Energieskala, die in etwas unscharfer Weise angibt, wie sich zwei Elemente ein Elektron teilen. Das elektronegativere Element zieht das Elektron stärker an als das schwächere. Man kann mit dem Konzept der Elektronegativität auch Zweierbeziehungen beschreiben, bei denen der Übergang eines Elektrons von einem Atom zum anderen nicht hundertprozentig erfolgt.
Einige Werte finden sich in der Tabelle Elektronegativitäten einiger Elemente.
Wir erwähnen die Elektronegativität hier mehr aus historischen Interesse und weil sie im Sprachgebrauch der Chemie noch sehr lebendig ist. In einem "advanced" modul gibt es noch Detailinformationen.
Wir haben jetzt quantitative Parameter die uns etwas über Energien sagen. Damit können wir das Quantenzahlen-Energiediagramm des vorhergehenden Unterkapitels jetzt "richtig", und nicht mehr nur schematisch darstellen.
Gedanklich müssen wir dazu aus jedem durch die Quantenzahlen gegebenen Zustand das dort befindliche Elektron abtrennen und ins Unendliche bringen. Nimmt man dazu den energetisch höchsten besetzten Zustand, erhält man die uns jetzt bekannte Ionisierungsenergie.
Im Gedankenversuch kann man das aber auch mit Elektronen machen die auf tieferen Niveaus sitzen, "näher" am Atomkern. Auch für solche Elektronen ist eine eindeutige Energie definiert, die man messen oder rechnen kann.
Man erhält beispielsweise für Li und Al die folgende Darstellung und einige weitere über den Link.

Die grünen Pfeile symbolisieren die Elektronen; jeweils mit Spin "up" oder "down".

Da wir wissen, daß Metalle viel freie Elektronen haben, die sich von den Atomen gelöst haben müssen, Isolatoren dagegen keine, können wir uns schon hier leicht einige allgemeine Regeln ableiten:
Elemente mit kleinen Ionisierungsenergien, die also leicht Elektronen abgeben, sind i.a. Metalle.
Im Umkehrschluß: Metalle, wenn sie als Ionen vorliegen. sind i.a. positiv geladen
Elemente mit positiven (d.h. überhaupt definierten) Elektronenaffinitäten, die also zusätzliche Elektronen binden können, sind i.a. Isolatoren. In ionischer Form sind sie negativ geladen.
Elemente mit 3 ... 5 Elektronen in der äußersten Schale, die also gefüllte Schalen durch Abgabe oder Aufnahme mehrerer Elektronen erhalten können, sind "unentschieden"
Beispiele dafür sind: C, Si, Ge, Sn, Bi - also auch die für uns besonders wichtigen Elemente.
Fragebogen
Multiple Choice Fragen zu 2.1.6

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)