4.3 Versetzungen, plastische Verformung und der Rest

4.3.1 Versetzungen und plastische Verformung

Was ist eine Versetzung?

Nun ja – hier ist das Eingangsbild noch einmal, zusammen mit einem HRTEM-Bild (High-Resolution Transmission Electron Microscopy) realer Versetzungen im Si-Kristall.
Stufenversetzung
Schematische Darstellung einer Versetztung
Hochaulösendes 
TEM Bild von Versetzungen

Reale Versetzungen in Si
Entlang einer Linie, die in diesem Bild dem Ende einer zusätzlich in das Gitter / den Kristall hineingeschobenen "Halb"-Ebene entspricht, ist die Symmetrie massiv gestört – die Linie stellt einen Defekt dar. Die roten Striche im HRTEM-Bild markieren die "eingeschobenen" Ebenen.
Die schematische Darstellung einer sog. Stufenversetztung im obigen Bild ist ein Klassiker, gibt aber aus der großen Menge aller möglichen Versetzungen nur einen ganz bestimmte Typus wieder. Leider kann man all die anderen Typen nicht in einfachen Bildern veranschaulichen.
Macht aber nichts – für ET&IT-Studis reicht die Stufenversetzung.
Wir nehmen nur mal 2 Punkte zur Kenntnis:
Ein Versetzung definiert eine Linie im Kristall und hat danmit eine bestimmte Länge. Die Länge aller in einem Kristall vorhanden Versetzungen bezogen auf das Kristallvolumen ist die Versetzungsdichte r; wir haben also
r  =  Gesamtlänge Versetzungen
Volumen Kristall

[r ]  =  cm 
cm3
 =  cm–2
Die Versetzungsdichte in einem gegebenen Kristall ist eine wichtig Strukturgröße; sie liegt irgendwo zwischen 0 cm–2 und 1012 cm–2 .
     
Wozu Versetzungen gut sind
   
Über Versetzungen sollten ET&IT-Studis (so wie der Rest der Menschheit) zunächst mal nur eines wissen:
Die plastische Verformung aller Kristalle
(= aller Metalle) erfolgt ausschließlich
durch die Erzeugung und Bewegung von Versetzungen.
In anderen Worten: Die gesamte Metalltechnik und damit die gesamte Zivilisation (wenn nicht gar die Kultur) hängt an diesem 1-dimensionalen Defekt.
Die Umkehrung des obigen Spruches ist auch richtig: Will ich plastische Verfomung verhindern, muß ich die Erzeugung und (wichtiger) die Bewegung von Versetzungen verhindern.
Aber nicht immer und hundertprozentig – denn sonst hätte ich ein sprödes Material –, sondern so, daß ich maximale "Härte " (= Widerstand gegen plastische Verformung) kombiniere mit einem Rest an Duktilität (= plastische Verformbarkeit).
Das Paradigma dazu war jahrtausendelang das "magische" Schwert; heutzutage ist es die Autokarrosserie (und der Golfschläger!).
Selbstverständlich ist plastische Verformbarkeit außerordentlich nützlich, um ein bestimmtes Teil herzustellen (Kotflügel etc., z.B. durch Pressen). Aber auch Glas könnte man (bei höherer Temperatur) in die Form eines Kotflügels oder Schwerts pressen; trotzdem haben Glasautos und Glasschwerter keine Bedeutung erlangt.
Denn plastische Verformbarkeit ist auch beim fertigen Produkt, das sich eigentlich nicht mehr verformen soll, eminent praktisch: Das Stahlschwert bricht eben nicht, wenn man auf ein anderes Stahlschwert haut, sondern hat allenfalls eine kleine Macke (= lokale plastische Verformung). Schlecht, aber allemal besser als der beim Glasschwert sichere Bruch. Bei Kotflügeln etc. gilt dasselbe Prinzip.
Plastische, d.h. bleibende Verfomung heißt, daß sich ein Kristall nach Einwirkung einer Kraft bleibend verformt hat. Das gilt z. B. für einen Kotflügel, nachdem man gegen einen Baum gefahren ist – der Metallkristall hat jetzt eine ander Form als vorher. Der Baum selbst, falls man ihn nicht gefällt hat, hat sich i.d.R. elastisch verformt (von den Verletzungen der Rinde abgesehen). Er ist nach Wegnehmen der Kraft wieder in der vorherigen Gestalt.
Plastische Verformung bedingt zwangsläufig, daß Teile eines Kristalls sich gegenüber anderen Teilen verschoben haben. Einige Atome sind nicht mehr dort, wo sie früher waren. Die damit verbundenen bleibenden Verschiebungen der Atome werden immer durch den Durchlauf von Versetzungen durch den Kristall erzeugt.
Wie das schematisch funktioniert, ist hier gezeigt:
Elastische und plastische Verformun
Im ersten Schritt legen wir eine "Scherspannung" an, die den oberen Teil des Kristalls gegenüber dem unteren Teil nach links verschieben möchte. In anderen Worten: Wir hauen mit dem Hammer auf die obere rechte Hälfte.
Solange die Spannung nicht zu groß ist, wird der Kristall sich nur elastisch verformen. Nach Überschreitung einer bestimmten Größe, der Fließspannung oder Fließgrenze, bildet sich jedoch eine Stufenversetzung, die in der gezeigten Weise durch den Kristall wandert. Versetzungserzeugung und -bewegung geschieht, sobald die "Fließgrenze" Rp auf dem nebenstehendem typischen Spannungs-Verformungs-Diagramm überschritten wird.
Nach Durchqueren des Kristalls hat sich auch auf der rechten Seite eine Stufe gebildet. Der Nettoeffekt des Durchgangs einer Versetzung ist die Abgleitung der oberen Kristallhälfte relativ zur unteren um ungefähr eine Gitterkonstante oder Atomabstand.
Warum so kompliziert, wenn es eigentlich auch einfach geht? Warum rutscht die obere Kristallhälfte nicht einfach geschlossen nach links? Die Antwort ist einfach: Dazu müßten erheblich höhere Kräfte wirken – man muß dann ja sehr viele Bindungen gleichzeitig lösen; mit einer Versetzung sind es viel weniger.
Im täglichen Leben ist das ein bekannter Effekt. Oft gelingt die Bewegung eines Körpers relativ zu einem anderen viel besser, wenn ein "Defekt" erzeugt wird, der durch den Körper läuft. Nachfolgend ohne Kommentar drei Beispiele.
Teppichverrücken mit Falte Raupe ("Inchworm") Regenwurm
Wie kann eine makroskopische Verformung in allen drei Raumrichtungen (Kotflügel!) durch Versetzungen entstehen, wenn eine Versetzung gerade mal eine Verformung um Bruchteile eines Nanometers bewirkt? Die Antwort ist klar:
1. Es müssen sehr viele Versetzungen zusammenwirken, und
2. Sie müssen auf vielen verschiedenen Ebenen durch den Kristall laufen.
Wie groß sind Versetzungsdichten in normalen Kristallen? Die Antwort wurde oben schon gegeben: man findet eine Bandbreite von 0 cm–2 bis zu 1012 cm–2 ! Beispiele dazu:
Versetzungsfreies Silizium – das Basismaterial für die Siliziumtechnologie: r = 0 cm–2
Es gibt auch noch versetzungsfreies Ge, sonst haben alle Kristalle (mit Ausnahme mikroskopisch kleiner) immer eine endliche Versetzungsdichte.
"Gute" Einkristalle (fürs Labor gezüchtet): r » (103 bis 105) cm–2.
Normale Kristalle inkl. Polykristalle: r » (105 bis 109) cm–2.
Stark verformte Kristalle: r = bis 1012 cm–2.
Wenn man sich vor Augen hält, daß eine Versetzungsdichte von 1010 cm–2 bedeutet, daß in einem cm3 Kristall insgesamt 1010 cm = 100 000 km Versetzungen stecken, wird begreiflich, warum sich selbst große makroskopische Verformungen durch die winzigen Verschiebungen der Einzelversetzung darstellen lassen.
Zum Schluß ein Link zu einem Bild aus dem Transmissionselektronenmikroskop (TEM ), mit dem man bei hoher Vergrößerung durch dünne (d.h. Dicke » 1 µm) Kristalle hindurchsehen und dabei Versetzungen direkt sichtbar machen kann. Die dreidimensionale Versetzungsstruktur wird dabei projiziert dargestellt.
 
Wann Versetzungen schlecht sind
   
Versetzungen bestimmen nicht nur mechanische Eigenschaften der (kristallinen) Materialien, sondern auch elektrische Eigenschaften.
Teilen wir die Welt der elektrotechnischen Materialien klassisch ein in
  • Leiter (meist Metalle)
  • Isolatoren (= Dielektrika)
  • Halbleiter
  • Ferromagnete
finden wir – ganz grob – folgende Effekte:
Metalle: Wichtig ist eigentlich nur der spez. Widerstand .
Versetzungen erhöhen immer den spez. Widerstand – der Effekt ist aber nicht sehr groß und relativ unwichtig.
Isolatoren: Wichtig sind Dielektrizitätskonstante und Durchschlagsfestigkeit.
Versetzungen gibt es nur in kristallinen Varianten. Dann sind sie nicht gut für diese Eigenschaften, aber für gebräuchliche Materialien nahezu unbedeutend.
Halbleiter: Wichtig ist der Leitungstyp , der durch Dotieren eingestellte spezifische Widerstand, das Rekombinationsverhalten der Ladungsträger (bestimmt u.a., ob und wieviel Licht rauskommt) und das Verhalten von "Phasengrenzen" ("pn-Übergänge").
Für die allermeisten Halbleiterbauelemente (Dioden, Transistoren, Thyristoren, integrierte Schaltungen, Optoelektonik (LED, Laser, Lichtdetektoren, ...) gilt die einfache Regel: Versetzungen sind tödlich.
Die Ausnahme sind diverse Solarzellentypen und einige optoelektonische Materialien (insbesondere GaN). Dort sind Versetzungen zwar auch immer schlecht, man kann (und muss) aber mit ihnen leben.
Ferromagnetische Materialien:
Versetzungen, zusammen mit all den anderen Defekten, beeinflussen sehr stark die Form der Hysteresekurve. Das ist überwiegend gut, denn damit kann man magnetische Materialien optimal anpassen.
 
Fazit: Auch wenn i.a. kein Schwein (insbesondere in der Form von Geisteswissenschaftlern, Politikern, Kulturschaffenden, ...) weiß was Versetzungen sind, heißt das noch lange nicht, dass sie unwichtig sind.
   

Mit Frame Zurueck Weiter als PDF

© H. Föll (MaWi für ET&IT - Script)