10.2.3 Ermüdung

Unter Ermüdung verstehen wir Änderungen der Materialeigenschaften, die durch ständig wechselnde kleine Belastungen (z.B. Vibrationen und Schwingungen) verursacht werden, und die im Extremfall einen plötzlichen und oft katastrophalen Bruch verursachen.
Entscheidend (und zunächst unverständlich) ist dabei, daß Ermüdung auch eintreten kann, falls die Amplituden der Schwingungen, und damit auch die im Material auftretenden Spannungen, weit unterhalb der Fließgrenze bleiben, so daß eigentlich nur elastische Verformung vorliegen sollte.
Wenn trotzdem plastische Verformung stattfindet, ist klar, daß wir eine Abhängigkeit des Ermüdungsphänomens von der Frequenz und der Amplitude der Wechselbelastung erwarten müssen. Damit ist schon im einfachsten Fall einer Dauerbelastung mit konstanter Frequenz und Amplitude komplexes Verhalten zu erwarten, das selbstverständlich auch noch vom Gefüge des gegebenen Materials abhängen wird.
Schwanken Frequenz und Amplitude auch noch im Laufe der Zeit, wird die Sache vollends unübersichtlich, da sich die Effekte nicht einfach addieren lassen.
Wenn ein Material das jahrelang gehalten hat und von dem wir sicher sind, daß es ursprünglich keine Mikrorisse enthielt, durch Ermüdung ohne Vorwarnung und ohne große plastische Verformung plötzlich bricht, müssen wir davon ausgehen, daß sich im Laufe der Zeit Mikrorisse gebildet haben, die   l a n g s a m   gewachsen sind, bis dann einer die für die vorliegende Belastung definierte kritische Größe erreicht hat.
Damit müssen wir primär nach Mechanismen suchen, die zur Bildung und langsamen Wachstum von Mikrorissen bei Wechselbelastung (und nur bei Wechselbelastung) führen.
Leider gibt es keine einfache Antwort. Was man beobachtet, wenn man in Ermüdungsexperimenten eine Probe zyklisch verformt, ist eine mit der Zahl der Zyklen kontinuierlich abnehmende maximale Zugfestigkeit oder Bruchspannung RM (das war der Wert des Maximums in der Spannungs-Dehnungskurve). Trägt man für eine gegebene Amplitude der Schwingungsbelastung RM gegen die Zyklenzahl auf, erhält man die sogenannte Wöhler - Kurve. Sie sieht typischerweise so aus:
Weitere allgemeine Beobachtungen sind:
Die Ermüdung ist nicht stark temperaturabhängig; sie folgt jedenfalls nicht einer Arrheniusbeziehung mit einem wohldefinierten Boltzmannfaktor.
...Dehnungsamplitudenentwicklung
Kristalltypabhängigkeit
Bruchriß meist von außen
Der Mechanismus der Ermüdung ist äußerst komplex und längst nicht im Detail verstanden.. Es lassen sich jedoch zwei fundamentale Mechanismen prinzipiell unterscheiden:
1. Irreversible Vorgänge bei der Vor- und Rückwärtsbewegung von Versetzungen, die im Laufe der Lastwechsel zu fundamentalen Änderungen der Versetzungsanordnung führen.
2. Durch diese spezielle Versetzungsanordnung entstehen Mikrorisse, meist auf der Oberfläche des Materials, die solange wachsen, bis die kritische Rißlänge an einer Stelle erreicht ist und das Material bricht.
Schauen wir uns diese beiden Mechansismen in einem extrem vereinfachten und idealisierten Modell kurz an.
Überlegen wir uns zunächst, wie die Versetzungen beim ersten Spannungszyklus am Maximum der Amplitude vorliegen. Da wir unterhalb der Fließgrenze arbeiten, sind sie an Hindernissen verankert und bewegen sich nicht.
Wechselt die Belastung jetzt von Zug nach Druck, will die Versetzung zurücklaufen, und das kann sie auch. Denn die Ausscheidungen, an denen sie bei Zugbelastung festhängt, blockieren die Rückwärtsbewegung nicht. Sie läuft jetzt soweit zurück, bis sie an anderen Auscheidungen wieder festhängt.
Für den Fall einer einzigen Versetzung sieht das bei Verankerung an Ausscheidungen beipielsweise so aus:
Die Versetzung würde also zwischen zwei stabilen Lagen hin- und herwackeln und dabei eine kleine lokale Wechselverformung der Probe, gegeben durch den überstrichenen Bereich, verursachen.
Wenn weiter nichts geschieht als daß die Versetzung zwischen zwei Lagen pendelt, würde keine Ermüdung auftreten. Der erste Primäreffekt des Ermüdungsmechanismus besteht darin, daß die Versetzung sich gelegentlich - abhängig von sehr vielen Parametern - bei einem der Lastwechsel in eine andere Lage begibt. Wir verdeutlichen uns eine Möglichkeit von vielen, am Beispiel einer reinen Schraubenversetzung.
Wir denken uns die Linie der Schraubenversetzung senkrecht zur Zeichenebene, die Hindernisse sind links und rechts. Das sieht so aus:
Die Schraubenversetzung kann an sich auf allen Ebenen, die senkrecht zur Zeichebene stehen gleiten; sie zieht aber bestimmte Ebenen vor - in der Regel die dichtgepackten.
Nehmen wir - zugegebenermaßen etwas künstlich - an, daß zwei dichtgepackte Ebenen senkrecht zur Zeichebene verlaufen, haben wir eine erste Möglichkeit von irreversiblen Vorgängen beim Hin- und Hergleiten der Versetzung unter Wechsellast:
Warum soll die Versetzung beim n + 1 Lastwechsel plötzlich in eine andere Richtung gleiten, als die 257 396 mal zuvor? Wer weiß. Vieleicht ist es reine Statistik, vielleicht ist ihr aber auch ein Fremdatom auf die alte Gleitebene diffundiert, dem sie ausgewichen ist.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)