Maximum der Spannungs - Dehnungskurve,

"wahre" Spannungen und Dehnungen und

Instabilität durch Einschnürung

Maximum der Spannungs - Dehnungskurve und "wahre" Spannungen

Wieso hat die in Kapitel 7.1.1. gezeigte Spannungs- Dehnungskurve ein Maximum (und die in Kapitel 8.2.1 gezeigten nicht?). Die Antwort ist einfach:
Weil der Querschnitt der Probe immer kleiner wird, wir aber die Spannung s in Kapitel 7 immer auf den Ausgangsquerschnitt bezogen haben.
Die "wahre" Spannung s* (sie heißt wirklich so!) ist bei verringertem Querschnitt natürlich höher, es gilt
s*  =   s
A*
     
A*  =  "wahrer" Querschnitt  =   A
e + 1
(Folgt aus A* · l = A · l0 wg. Volumenkonstanz)
Man kann also leicht von den nominellen Spannungen, die immer auf den Ausgangsquerschnitt bezogen sind (engl."engineering strain") auf die wahre Spannung beim Zugversuch umrechnen.
Das ist natürlich nur bei großen Verformungen von Einfluß. Solange wir im elastischen Bereich bleiben, lohnt es sich nicht. Bei plastischer Verformung ist es aber wichtig, sich darüber im klaren zu sein, daß die Probe nur die wahren Spannungen spürt und nicht die nominellen.
Träg man die Spannungs - Dehnungskurve für die wahren Spannungen auf, verschwindet das Maximum! Das haben wir für die Einkristallverformung gemacht, denn für diese grundsätzliche Betrachtung ist die wahre Spannung, die Spannung am Ort der Versetzungen, wichtig.
Zugversuch mit wahrer Spannung
Mit den wahren Spannungen sind die Dinge zwar klarer - man kann ein Stück Kristall nicht wirklich länger ziehen, indem man die am Ort der Versetzungen wirklich wirkende Spannung reduziert - aber oft auch unpraktischer!
Das Maximum der Verformungskurve, und damit die maximale Zugfestigkeit RM als Materialparameter sind nicht mehr definiert oder zumindest nicht mehr leicht aus der Kurve zu entnehmen.
Das ist schlecht, denn RM hat eine weitere wichtige Bedeutung, die wir kurz streifen werden
 

Instabilität durch Einschnürung

Sobald das Maximum der nominellen Spannung in der Spannungs - Dehnungskurve erreicht ist, beginnt die Probe sich einzuschnüren.
Das sieht schematisch so aus: Und in der Realität so:
Einschnürung schematisch
Einschürung real
Was hat das Maximum der Spannungs - Dehnungskurve und der Beginn der Einschnürung miteinander zu tun?
Die Antwort liegt in der Abhängigkeit der Spannungs - Dehnungskurve von der Dehnungsgeschwindigkeit de/dt. Obwohl diese Abhängigkeit gering sein kann, wird man doch im allgemeinen höhere Spannungen brauchen um dieselbe Dehnung bei höherer Dehnungsgeschwindigkeit zu erreichen; Beispiele sind im Link zu finden
Betrachten wir eine Zugprobe, bei der ein kleiner Bereich 2 anfänglich eine größere Dehnung hat als der restliche Bereich 2 - irgendeine kleine Inhomogenität, was auch immer. Die Frage ist: Wie reagiert der Kristall? Wird Bereich 2 gebremst oder noch beschleunigt?
Zur Antwort schauen wir auf das schematische Bild unten, das zwei Spannungs - Dehnungskurven bei verschiedenen Dehnungsgeschwindigkeiten zeigt; wichtig ist dabei nur, daß die schnellere Dehnungsgeschwindigkeit immer mehr Spannung braucht als die langsamere.
Instabilität der Verfomung
Da die Spannung immer überall gleich ist, liegt Bereich 2 links vom Maximum auf der unteren Kurve, rechts vom Maximum auf der oberen Kurve mit der höheren Dehnungsgeschwindigkeit.
Bereich 1 liegt links vom Maximum auf der oberen Kurve, dehnt sich also schneller und wird Bereich 2 schnell einholen. Rechts vom Maximum wird Bereich 2 jedoch "davonlaufen" und sich immer schneller dehnen.
Dadurch wird die Probe im Bereich 2 dünner als im restlichen Bereich 1 - Einschnürung erfolgt, und die nominelle Spannung kann zurückgehen, da die lokalen Spannungen im Bereich 2 trotzdem groß bleiben. Die Probe wird sich lokal immer schneller dehnen (wobei die gesamte mittlere Dehnungsgeschwindigkeit trotzdem konstant bleibt) und schließlich brechen.
Die maximale Zugfestigkeit (manchmal auch obere Streckgrenze genannt) hat also eine signifikante und wichtige Bedeutung und es ist durchaus praktisch Spannungs - Dehnungsdiagramme mit den nominellen und nicht mit den wahren Spannungen zu messen.
 

"Wahre" Dehnungen

Genauso wie die nominellen Spannung nur dann mit den wirklich im Material vorhanden Spannungen annähernd identisch sind falls sich der Querschnitt nicht nennenswert ändert, die Verformungen also klein sind, sind große Dehnungen e ebenfalls fragwürdig:
Denn Gesamtdehnungen können mit der nominellen Definition von e genauso wenig durch Addition von einzelnen Dehnungen ermittelt werden, wie ein Gesamtzins aus der Addition von Einzelzinsen.
In anderen Worten: Ein mit 10 % (pro Jahr) verzinstes Guthaben von € 100 ist nach 5 Jahren eben nicht auf in Summe € 100 + 50% = € 150 angestiegen, sondern auf
€ (100 + 10 + 11 + 12 + 13 + 14) = € 160.
Man nennt das Zinseszinsrechnung
Mit der bisher benutzten nominellen Dehnung e ist es offenkundig genauso.
Für kleine Dehnungen (wie für kleine Zinssätze) ist der Fehler den man durch Aufaddieren der Dehnungen macht nicht groß und man braucht sich keine Gedanken über mögliche Konsequenzen zu machen.
Für große Dehnungen jedoch, wie sie bei der plastischen Verformung oder bei Elastomeren (dem Gummi) auftreten können, wird die Sache kritisch. Die insgesamt für eine Verformung bis zu einem (großen) e1 aufzuwendende Arbeit P1 kann und darf nicht vom Weg abhängen, sie ist immer .
P1  =   l
ó
õ
l0
F · dl '
Mit F = s* · A,   l = l0(e + 1),   dl = l0 · de  (A ist die (aktuelle) Querschnittsfläche) erhalten wir
P1  =  A · l0 · e1
ó
õ
0
s* · de
Damit wird die spezifische Arbeit P1spez pro Volumen V (= A · l0)
P1spez  =  P1
V
 =   e1
ó
õ
0
s* · de
Die insgesamt geleistete Arbeit kann und darf aber nicht davon abhängen, ob wir "in einem Rutsch" bis e1 verformen, oder erst bis zu einem beliebigen Wert e', und in einem zweiten Anlauf von e' bis e1. Wir müssen also fordern
P1spez  =   e1
ó
õ
0
s de  =   e'
ó
õ
0
s de   + e1
ó
õ
e'
s de
Diese Forderung ist bei nominellen Dehnungen nicht erfüllt - man vergleiche die Aufteilung in Einzelsummen (= Integrale) bei der obigen Zinseszinsrechnung.
Wir brauchen also eine Neudefinition der Dehnung, die auch für große Dehnungen additiv ist.
Dazu starten wir einfach mit einer inkrementell kleine Dehnung de; die gesamte Dehnung erhalten wir dann durch Aufintegration - wie beim Zinseszins, nur daß wir kleine Inkremente (nicht nur "Jahresscheiben") betrachten
Aus
e  =   l l 0
l 0
  =  Dl
l 0
wird dann
de  =   dl
l
und es ist wichtig, daß wir jetzt dl auf die real vorliegende Länge und nicht mehr auf l 0 beziehen.
Damit wird die wahre Dehnung e* - man nennt es wirklich so:
e* = l
ó
õ
l 0
de  =  l
ó
õ
l 0
dl
l
 =  ln l
l 0
Das ist im Prinzip eine bessere Definition der Dehnung als die nominellen Dehnungen - aber wer mag schon mit Logarithmen rechnen wenn es nicht unbedingt sein muß?.
Was man fast automatisch tut, ist den ln - Ausdruck in eine Reihe zu entwicklen. Und dann erhalten wir für kleine Dl die nominellen Dehnungen, wie es auch sein sollte:
e*   =   ln l
l 0
  =  ln l 0 + Dl
l 0
 =   ln æ
ç
è
1 + Dl
l 0
ö
÷
ø
 »  Dl
l 0
 » e

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