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Was ist Materialwissenschaft? Manchmal ist man geneigt zu sagen, Materialwissenschaft
ist, wenn die Physik oder die Chemie konkret und dann schwierig wird. |
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Denn zwei reale Kugeln, die sich hart im
Raume stoßen, kümmern sich fast nie um die Stoßgesetze für ideale
Massenpunkte, denn sie sind nicht aus idealem, sondern aus realem Material gemacht. Man denke zum Beispiel nicht nur an
relativ ideale Stahlkugeln, sondern auch an Bleikugeln, Plastillinkugeln, Seifenblasen oder Glaskugeln - hohl oder solide.
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Was beim Stoß dann passiert hängt von den Materialeigenschaften
ab. Manchmal gehen die Kugeln einfach kaputt und zurück bleibt ein Scherbenhaufen - dies ist in der "reinen" Physik nicht vorgesehen.
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Falls die Objekte etwas komplizierter sind als einfache Kugeln, wird
auch der Stoß ganz schön kompliziert - was nach dem Stoß "herauskommt" kann ganz anders aussehen
als das was "hineinging". |
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Leicht - mit Newtonschen Grundgesetzen - ist es also,
ideale Massenpunkte gedanklich zu stoßen; schwer ist es, dies für reale Materialien
zu tun. |
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Leicht, im Fluge der Gedanken, ist es aber
auch, die Maxwell Gleichungen so abzuändern, daß sie nicht nur im Vakuum
sondern auch im Material gelten. |
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Dazu muß man nur pauschal die Dielektrizitätskonstante er
und die magnetischen Suszeptibilität µr einführen - einfach eine Zahl. Schwer
ist es dagegen zu wissen, oder gar auszurechnen, warum ein Stück Quarz er = 3,7 hat. |
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Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Natürlich hat sich die Physik auch
um diese Fragen gekümmert. Wo immer wir Materialwissenchaft betreiben, ist im Hintergrund immer die Physik zu finden
- so wie auch bei der Elektrotechnik, dem Maschinenbau und in nahezu allen anderen technischen Disziplinen. |
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Es geht hier um die relative Bedeutung der Materialien, um die Anwendung, um Ergebnisse auch
dann, wenn die "üblichen" physikalischen Methoden nicht mehr greifen. |
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Wir bleiben mal bei den Glaskugeln, die, wenn sie sich hart im Raume stoßen,
einfach kaputtgehen und zerbrechen. Wir fragen uns: |
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Warum brechen sie? |
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Warum brechen zwei Stahlkugeln (oder Holzkugeln, oder Wachskugeln, oder ...) bei ähnlichen
Bedingungen nicht? |
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Wir verallgemeinen diese Frage etwas zu der Grundfrage,
die uns als Leitpfad für den ersten Teil dieser Vorlesung dienen soll: |
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Was passiert, wenn Materialien mechanisch belastet werden? |
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Wir nehmen gedanklich mal ein beliebiges Material, und hauen
mit dem Hammer drauf. |
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Interessanterweise wissen wir fast immer so ungefähr was passieren wird. Wir denken an
alle Arten von Materialien - an Metalle ( vom weichen Blei bis zum gehärteten Stahl),
an Steine, an Camembert,
an Glas, an Silizium, an
Gummi, an Holz, an .... |
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Nach sehr kurzem Nachdenken weiß man so ungefähr was passieren wird - allerdings
wird das Ergebnis auch davon abhängen, wie und von wem draufgehauen wird. |
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Ein Hammerschlag gefolgt von einer Prosabeschreibung dessen was geschah, ist
allerdings unwissenschaftlich - da schlecht reproduzierbar, im Detail schwer beobachtbar,
kaum meßbar und überhaupt halt sehr subjektiv. |
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Wir machen deshalb selbst unsere Gedankenexperimente
wie folgt: Intellektuell sauber (d.h. nicht im Konflikt mit bekannten Gesetzen des Wissenschaft), reproduzierbar, zeitlich
leicht verfolgbar und in allen Details quantitativ meßbar - in anderen Worten: wissenschaftlich
und objektiv. |
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Wir nehmen eine genormte Probe, z.B. einen Zylinder homogenen Materials. |
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Wir drücken (oder ziehen) mit einer genau eingestellten meßbaren Kraft. |
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Wir messen quantitativ was passiert; z.B. ob die Probe länger, kürzer,
dicker oder dünner wird; ob das nach Anlegen der Kraft schnell passiert, oder so allmählich, oder ob die Probe
vielleicht sogar zerreißt. |
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Damit haben wir (in Gedanken) schon fast einen paradigmatischen
Grundversuch der Materialwissenschaft gemacht, den Zugversuch. Wir schauen uns
das später ein bißchen genauer an, jetzt denken wir aber erst mal nur nach.
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Wir haben jetzt zumindest mal gesehen, daß Materialeigenschaften, die zwar
jedermann geläufig sind, gar nicht so ganz selbstverständlich sind. Offenbar ist wichtig |
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Was für Atome beteiligt sind (das "Material").
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Wie sind sie untereinander verbunden (die Natur der chemischen Bindung). |
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Wie das Material atomar aufgebaut ist (das Gefüge).
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Welche Temperatur vorliegt. |
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Welche weiteren Parameter, die wir noch gar nicht beachtet haben (z. Bsp. der Druck),
auch noch Einfluß haben könnten. |
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Wir machen jetzt noch einen anderen Gedankenversuch: Wir nehmen unsere Materialen von vorhin; nehmen auch
gerne noch einige neue Materialien dazu - zum Beispiel Silizium (Si) und Galliumarsenid (GaAs), und legen
jetzt keine mechanische Kraft, oder präziser gesagt, mechanische
Spannung (= Kraft pro Fläche) an, sondern eine elektrische Spannung.
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Die Frage ist dann: Fließt elektrischer Strom? Wieviel?
Steigt der Strom linear mit der Spannung? Ändert sich was beim Umpolen der Spannung? Was passiert, wenn wir die Probe
erhitzen oder kühlen? Auch dazu wollen wir ein wenig nachdenken |
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So allmählich wird klar, worauf das ganze hinausläuft: Ein Teil der
Definition von Materialwissenschaft ist die Frage nach den Eigenschaften
von Materialien: Mechanische, elektrische, magnetische, thermische, usw. Eigenschaften; erklärt und verstanden aus
dem atomaren Aufbau. Daraus folgt das erste Ziel des Materialwissenschaftlers:
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Sage mir den exakten atomaren Aufbau eines Materials,
und ich sage dir was für Eigenschaften es haben wird. |
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Kein leichtes Ziel, nicht mal für simple
einatomige Materialien mit dem einfachst möglichen Aufbau - das sind
perfekte Kristalle. Wer's nicht glaubt beantwortet (ohne Messung oder Auswendigwissen) folgende Fragen:
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Es ist Eis (H2O): Bei welcher Temperatur schmilzt
es? |
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Es ist ein perfekter Kobalt-Kristall: Was für einen Kristallgittertyp hat
er bei Raumtemperatur? Bei 700 °C? |
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Es ist ein perfekter Kobalt-Kristall: Ist er "magnetisch" Warum? Auch
bei 700 °C? |
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Diese simplen Fragen kann niemand quantitativ
beantworten, d.h. ausrechnen (daß man es vom Hörensagen weiß, gilt natürlich nicht!). |
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Natürlich gehören diese Fragen zum großen Bereich der Physik (oder Chemie?),
aber es wäre falsch, jetzt zu glauben, daß Materialwissenschaft nur ein Seitenzweig der Physik (oder Chemie)
ist. Denn Materialwissenschaft geht auch da noch weiter, wo die (reine) Physik (oder Chemie) aufhört. |
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Zu den Eigenschaften der Materialien, die für Materialwissenschaftler wichtig
sind, gehören eben auch noch: |
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Die zeitlichen Änderungen
der Eigenschaften (Materialermüdung, Korrosion, Auflösung von Marterialverbünden,...) |
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Ästhetische Eigenschaften
(die "Anmutung"). Wie fühlt
sich ein Material an? Wie sieht es aus? |
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Ökonomischen Eigenschaften:
Kosten der Gewinnung, Verarbeitung, Entsorgung,.. |
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Ökologischen Eingeschaften:
Gefahrkategorien, Abbaubarkeit, Recyclingfähigkeit,.. |
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Häufig dominieren diese "auch noch" Eigenschaften die Arbeit in der Praxis.
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Ein Beispiel dafür ist die Solarenergie. Die Funktion
von Solarzellen ist - von der Physik her betrachtet - extrem gut verstanden. |
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Das "einzige" Problem ist es seit Jahren, Solarzellen billig
zu machen; daran arbeiten ganze (Material)forscher-Heerscharen seit vielen Jahren. Ähnliches gilt für große
Teile der Mikroelektronik, denn das Machen eines
Chips ist ein Thema der Materialwissenschaft. |
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Wenn wir das Stichwort Materialeigenschaften
derart geräumig auffassen, dann wird die damit befaßte Wissenschaft sich von der Physik/Chemie genauso unterscheiden,
wie beispielsweise die Elektrotechnik oder der Maschinenbau von der Physik. |
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Auf dieser Basis soll nun eine erste Definition von Materialwissenschaft versucht werden. |
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Materialwissenschaft ist die Wissenschaft von den
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Eigenschaften der Materialien, den (physikalischen, chemischen, wirtschaftlichen oder sonstigen)
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Ursachen dieser Eigenschaften, und damit der wissenschaftlich begründeten
| Materialauswahl, |
Materialherstellung und |
Materialanalyse für technische Anwendungen. |
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Es folgen einige Beispiele dazu aus der laufenden Forschung - in Form einer Stichwortliste. Es handelt sich
immer um "Dinge", die wir gerne hätten, und die ausschließlich
Objekt der Materialwissenschaft sind: |
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Korrosionsbeständige Magnesium (Mg) - Legierungen.
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Geeignete Materialien für Brennstoffzellen. |
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Dielektrika mit kleinen Dielektrizitätskonstanten (und vielen anderen Eigenschaften)
für die nächste Chipgeneration. |
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Dielektrika mit großen Dielektrizitätskonstanten (und vielen anderen
Eigenschaften) für die nächste Chipgeneration. |
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Materialen und Technologien für billige Solarzellen. |
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Hochtemperaturfeste Turbinenschaufeln. |
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Duktile keramische Supraleiter. |
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Bessere Batterien und Akkus. |
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© H. Föll (MaWi 1 Skript)