10.1.2 Systematik der Alterungserscheinungen

Verschiedene Alterungsszenarien

Betrachten wir ein beliebiges Material oder Materialsystem und sein Verhalten im Laufe der Zeit. Dabei unterstellen wir "normalen" Betrieb und betrachten nur Alterungsphänomene die eher unerwünscht sind (also nicht z.B die Alterung beim Wein).
Wir betrachten damit keine Materialien, deren Nutzen oder Zweck ausschließlich darin besteht, daß sie selbst oder ihre Eigenschaften sich im Laufe der Zeit ändern - z.B. kompostierbare Plastikbehälter oder Brennstäbe im Kernreaktor. Wir wollen auch nicht Systeme betrachten, die sich aus ganz elementaren intrisischen und nicht beeinflußbaren Eigenschaften zeitlich ändern, z.B. radioaktive Isotope in Strahlungsquellen oder in Atomsprengköpfen.
Wir wollen aber schon Materialien betrachten, die zwar im normalem Betrieb schnell und berechenbar altern - Autoreifen, Fräsköpfe, Schuhsohlen, Bremsbeläge - wo es aber zumindest dem Anwender, wenn schon nicht dem Hersteller, lieber wäre, das Material würde bei unveränderten Eigenschaften nicht gar so schnell altern.
Normaler Betrieb kann nun vieles bedeuten. Die Skala reicht vom unbewegten und unbelasteten (oder besser, nur durch das eigene Gewicht belastete) Vorhandensein (z.B. Fensterglas) bis zur gezielten Höchst- oder Extrembelastung. Dies können z.B. extreme mechanische Lasten in Hochleistungstriebwerken, extreme elektrische Spannungen und Ströme, extreme Temperaturen oder extrem aggressive chemische Umgebungen sein.
In den Extremfällen werden wir davon ausgehen, daß die Materialien nicht allzu lange halten; die Materialforschung und Entwicklung dreht sich dann im Grunde nur noch um die Alterungs- und Degradationseffekte. Man könnte das Wort "Extrembelastung" auch durch den Begriff "An der Alterungsgrenze belastet" ersetzen.
Wir könnten uns jetzt auf die Alterungsphänomene beschränken, die unerwartet sind, die man also nicht unmittelbar versteht, und gegen die man daher auch keine richtige Vorsorge treffen kann.
Dann sind wir aber schon fertig, denn was wir nicht verstehen, können wir auch nicht näher beschreiben. Die uns allen geläufige Tatsache, daß Materialien altern und oft aus uns unklaren Gründen unerwartet kaputtgehen, kann unverstandene Phänomene enthalten, muß es aber nicht. In den meisten Fällen unerwünschtem Alterns bei normalem Betrieb eines Systems ist es eher wahrscheinlich, daß der Grund dafür in einem der folgenden Szenarien liegt:
 
1. Der Alterungseffekt für das betreffende Material war zwar verstanden und im Detail bekannt, wurde aber bei der Konstruktion übersehen oder schlicht ignoriert.  
Rahmenbruch
Gebrochener Fahrradrahmen
- lebensgefährlich!-
Das gilt z.B. mit einiger Sicherheit bei Billigfahrrädern, Videobändern oder Haushaltsartikel.
     
2. Der Alterungseffekt für das betreffende Material war im Prinzip, aber nicht im Detail bekannt und verstanden, bei der Konstruktion wurde deshalb nur mit ungefähren Parametern gerechnet, die rückblickend nicht gut genug waren.  
Einsturz Kongresshalle Berlin
Kollabierte "schwangere Auster" in Berlin
 
Einige Korrosionsphänomene die zu spektakulären Einstürzen führten - z.B. beim Dach der Kongresshalle in Berlin - fallen darunter.  
     
3. Das System wurde weit über die eigentliche erwartete Betriebsdauer hinaus benutzt.
Ein schönes Beipiel dafür ist die alte Boeing 707, der vor Hawaii das halbe Kabinendach abfiel (wg. "Materialermüdung"), so daß sie als Kabrio weiterflog - aber so unglaublich das angesichts der Bilder erscheint, noch sicher landete. Dabei wurde "nur" eine Person getötet!
 
Boeing; Kabrio Version 1
"Courtesy: National Transportation Safety Board"
Boeing; Kabrio Version 2
"Courtesy: National Transportation Safety Board"
 
4. Der Alterungseffekt für das betreffende Material war zwar gut bekannt und verstanden, bei der Kostruktion wurde die Alterung aber gezielt in Kauf genommen oder sogar mit Absicht eingebaut, um die Lebensdauer des Systems auf einen vorgegeben Zeitraum zu beschränken.
Rostiges Auto
Schließlich sollen Gebrauchsgegenstände nicht ewig leben!
Ein gutes Beispiel sind Autokarosserien, die früher oder später - aber in berechenbaren Zeiträumen - durchgerostet sein werden.  
   
5. Der Alterungseffekt war gut bekannt, es gab aber keine wirksamen oder bezahlbaren Gegenmaßnahmen.
Rohrbruch
Mit freundlicher Genehmigung
von "Werner" (Rötger Feldmann)
Bestimmte Schweißnähte in den Rohren von Kraftwerken fallen darunter, die eine nutzbare Lebensdauer von ca. 10 Jahren haben und die man gerne - auch mit viel Geld - haltbarer machen würde, so man es denn könnte.
Es hilft nichts - es muß planmäßig erneuert werden, falls man die Katastrophe nicht planmäßig erleben will.  
   
6. Der Alterungseffekt war gut bekannt und in die Konstruktion aufgenommen, aber statistische Effekte führen zu Ausreißern.
Die Verteilung der Mikrorißlängen zum Beispiel, die die max. Bruchspannung bestimmen, ist ihrer Natur nach eine statistische Verteilung - das heißt, die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein eines zu großen Mikrorisses in irgendeinem von vielen eigentlich identischen Bauteilen wird niemals exakt gleich Null sein.
Deshalb werden Materialien überprüft - als Rohmaterial und im Betrieb - aber auch die Wahscheinlichkeit, daß man alle Risse findet, die zu groß sind, ist nicht exakt gleich Null. Die Wahrscheinlichkeit, daß im Betrieb ein Bruch auftritt, kann damit zwar sehr klein, aber niemals exakt gleich Null sein.
Wenn dann noch dazu kommt, daß es auch immer eine endliche Wahrscheinlichkeit für eine katastrophale Folge eines Bruches gibt, lassen sich Großkatastrophen, wie geschehen beim Bruch eines ICE Radreifens oder einer Triebwerksaufhängung an einen Jumbojet, nie mit Sicherheit vermeiden - es bleibt das berühmte Restrisiko.
Bei dem Disaster in Eschede, hat man aber auch durch Fahrlässigkeit und Schlamperei noch kräftig nachgeholfen.
 
Esched Unglück
Die Folge eines gebrochenen Radreifens
Radreifen
 
News summary
We studied press releases from the District Attorney's office (Staatsanwaltschaft Lüneburg) [1] and the Deutsche Bahn AG [2], both of which contained comments and expert testimonies.
The Fraunhofer Institute LBF Darmstadt (sister of the FHG-IZfP, Fraunhofer's NDT Institute Saarbrücken) presented 300 pages of expert testimony and another 300 pages of literature references.
A cracking inside the ring of the wheel was responsible.
There was no indication of material or production failure. This crack was caused by excessive load and wear. When ICE began operations, there was no certification in place that would document appropriate design and reliability. Moreover no fracture mechanic calculation was done that could prove the strength of the wheel during its lifetime. According to the experts such wheels should not be operated at less than 880 mm diameter (new condition = 920 mm), subject to annual testing for inner and middle zone cracks. (An important NDT fact!) The diameter of the accident wheel was 862 mm. The limit set by Deutsche Bahn is 854 mm.
We interviewed District Attorney Jürgen Wigger, who explained that the wheel in question was first put into operation in 1994 and ran 1,8 Mill km until the accident in June 1998. In terms of assessing responsibility for the accident, it is significant that during its 4 years of operation, the wheel was never tested.
 
7. Der Alterungseffekt ist bekannt, aber in seinem Mechanismus nicht sehr gut verstanden.
Man kann dann empirische Vorsorge treffen, hat aber keine Garantie für die gewünscht Lebensdauer. Der Ausfall von integrierten Schaltungen, Transistoren oder Kondensatoren fällt darunter - irgendwann schlagen z.B. die isolierenden Dielektrika aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen elektrisch durch.
8. Der Alterungseffekt war unbekannt, wird aber nachträglich verstanden.
Dies war zum Beispiel bei spektakulären Unfällen der ersten Düsenjets der Fall, als bestimmte Phänomene der Materialermüdung noch nicht bekannt waren.
Comet - erster kommerzieller Jet
The Seattle Museum of Flight Comet 4C
The De Haviland Comet was the first operational jet airliner. It began regular service in May of 1956. Its initial success was tarnished by a series of crashes that were ultimately attributed to metal fatigue (= Ermüdung) and a fuselage design that allowed small cracks to quickly propagate and cause massive failure of the airframe. After the cause of the crashes was determined, De Haviland redesigned and lengthened the original Comet to produce the Comet 4. By that time, however, the Boeing 707 and Douglas DC-8 were in service, and the smaller capacity and lower speed of the Comet were not competitive. The elegant, streamlined nose section of the Comet did live on in the French Carvelle airliner.
 
Das ist schon eine lange Liste von Szenarien, die bei normalem Betrieb eines Systems zu Ausfall durch Alterung führen können. Zum normalen Betrieb kommt aber immer noch das Unerwartete, Übersehene oder Unerkannte. Auch diese Liste ist lang und oft nicht überschaubar:
Nicht nur Erdbeben oder Wutausbrüche bewirken unvorhergesehene zusätzliche mechanische Spannungen in Haushaltsgegenständen - das können auch fast unmerkliche Vibrationen, kleine schnelle Stöße (Türzuschlagen) oder Temperaturwechsel tun, die weiter nicht auffallen aber im Laufe der Zeit eine Wirkung zeigen.
Strahlung ist immer da, wird aber oft ignoriert. Dabei ist nicht nur normales Licht zu betrachten, sonder auch die ultraviolette (UR) oder Infrarotstrahlung (IR). Auch die natürliche Radioaktivität und die Höhenstrahlung können Einfluß nehmen sowie vielleicht (aber letztlich wohl kaum) der Elektrosmog - die elektromagnetische Strahlung aus Fernsehen, Hörfunk, Handys, Hochspannungsleitungen, etc.
Mit am wichtigsten ist die chemische Umgebung: Der Sauerstoff in der Luft ist chemisch äußerst aggressiv, aber Luft ist nicht gleich Luft, sie hat auch verschiedene und wechselnde Gehalte an Luftfeuchtigkeit und noch diese und jene Spurenkomponenten.
Alle Arten von Flüßigkeiten oder Kontaminationen sind zu betrachten, die über die Oberfläche unser Material im Laufe der Zeit beeinflussen können.
Besonders schwierig wird es, wenn zwei Einflußfaktoren in unklarer Weise zusammenwirken. Besonders berühmt ist in diesem Zusammenhang die Spannungsrißkorrosion, d.h. die Beobachtung, daß manche Materialien manchmal sehr viel schneller (entlang der Korngrenzen) korrodieren, wenn sie unter mechanischer Spannung stehen.

Die Problematik der Vorhersagen
   
Als nächstes machen wir uns klar, daß Alterungsphänomene nur sehr schwer und fast niemals wirklich systematisch untersucht werden können. Versetzen wir uns dazu einmal in die Lage des Entwicklungsteams eines neuen Chips.
Den besseren Kunden muß garantiert werden (sonst Geld zurück und Schadensersatz), daß der Chip auch im Dauerbetrieb in der Wüste oder in der Arktis mindestens 10 Jahre läuft - allenfalls darf vielleicht einer unter 1.000 vorher kaputtgehen.
Wie kann man das garantieren? Sicher nicht, indem man 10 Jahre lang Tests macht. Die einzige Methode ist, basierend auf der Erfahrung mit Vorgängersystemen und mit empirischen oder theoretischen Modellen der Alterungsmechanismen, beschleunigte Teste zu machen, d.h. den Chip z.B. bei höheren Temperaturen und Betriebsspannungen so zu betreiben, daß er schneller altert, aber mit den gleichen Mechanismen wie im Normalbetrieb.
Letzlich müssen zahlreiche Chips (um statistisch verläßliche Aussagen zu gewinnen) so gequält werden, daß nicht zu wenige schon nach Tagen oder Wochen den Geist aufgeben. Aus der gewonnen Verteilung der Ausfälle im Zeitraum Tage wird dann auf Lebendauern im Zeitraum 10 Jahre extrapoliert - ganz sichere Vorhersagen werden das nie sein.
Die Moral von der Geschichte ist, daß man bei wirklich neuen Materialien und/oder Belastungsarten aus dem Alterungsverhalten bei beschleunigten Tests letztlich nicht wirklich die Zukunft vorhersagen kann, denn man kann nicht wissen, ob man alle beim neuen System relevanten Alterungsmechanismen erfaßt hat.
Häufig lernt man erst Jahre später, wenn unvorhergesehene Alterung zu kleineren oder größeren Katastrophen geführt hat, daß ein neuer, bisher unbekannter Alterungmechanismus existiert.
 
Unterscheidungskriterien
   
Wir müssen einige systematische Unterscheidungen treffen. Zunächst können wir fragen, ob das Material in seinem Einsatzbereich prinzipiell im Nichtgleichgewicht ist, also nicht einmal in einem Metagleichgewicht, oder ob es wenigstens im Metagleichgewicht in sich ruht.
Das Kriterium für (Meta) Gleichgewicht war, daß sich zeitlich nichts mehr ändert. Damit wäre altern grundsätzlich ausgeschlossen; wir entspannen das Kriterium etwas indem wir Systeme betrachten in denen sich in Zeiträumen nicht viel ändert, die kurz sind gegenüber der erwarteten Lebensdauer des Systems. Unter dieses Kriterium fallen zunächst alle Systeme, die nicht hoch belastet sind und eigentlich nicht kaputtgehen dürften - Pyramiden, Brücken, Fahrradrahmen, Fensterglas, Plastikgehäuse, ... . Hier haben wir klassisches Altern. Oft passiert nicht viel, uns wenn doch, kann es viele Jahre dauern bis deutliche Effekte auftreten.
Aber auch statisch hochbelastete Systeme, in denen aber kein Strom fließt, sind im Metagleichgewicht: Hochbelastete Metalle, die sich möglicherweise plastisch verformt haben, bei denen aber die Versetzungsbewegung zum Stillstand gekommen ist, Kondensatoren, über deren Dielektrikum ohne Stromfluß eine hohe Spannung abfällt, oxidierte Oberflächen, deren Oxidschichten so dick und dicht geworden sind, daß kein Sauerstoff mehr hindurchfließt (=diffundiert), ... . Sie können aber viel schneller altern als bei kleiner Belastung, weil Alterungsmechnismen schneller ablaufen als im unbelasteten Zustand oder weil neue Mechanismen auftreten.
Das Kriterium für Nichtgleichgewicht ist, daß sich etwas ändert - und das heißt immer, daß ein Strom fließt. Das muß nicht nur ein elektrischer Strom sein, das kann auch ein Wärmestrom sein, ein Teilchenstrom, z.B. wenn Atome oder Moleküle diffundieren, oder sogar ein Defektstrom - wenn z.B. Leerstellen oder auch Versetzungen laufen. Diese Stöme können wiederum spezifische Alterungsphänomene mit sich bringen.
Wir können aber, um ein Ordnungskriterium zu erhalten, auch an den Mechanismen ansetzen. Altern heißt zwangsläufig, daß sich im Gefüge des Materials etwas geändert hat. Amorphe Gebiete sind kristallin geworden, Verunreinigungen haben sich ausgeschieden, Kristallstrukturen haben sich umgewandelt, chemische Prozesse haben die grundsätzliche Konstitution geändert, Versetzungen sind erzeugt worden und durch den Kristall gelaufen, Mikrorisse sind gewachsen - irgendetwas im inneren Gefüge ist anders als früher. Eine Unterscheidung in zwei große Bereiche ist möglich:
Der Alterungprozeß läuft im gesamten Volumen des Materials, zumindest aber in Bereichen des Volumens. Ein Beispiel dafür ist die l a n g s a m e Kristallisation eines Glases im Laufe der Jahrhunderte.
Der Alterungsprozeß erfolgt über die Oberfläche. Ein Beispiel dafür ist die Korossion oder der Verschleiß.
Als Mischform kann man Alterungsprozesse über Volumen und Oberfläche (inkl. innere Oberflächen) betrachten; ein Beispiel dafür wäre die Spannungsrißkorossion oder die Elektromigration, aber auch das Ausdampfen von Wasser aus Holz - erst muß es durch das Volumen diffundieren, dann an der Oberfläche reagieren (in diesem Fall abdampfen), sonst bleibt es drin.
Bevor wir die eigentlichen Prozesse betrachten, wollen wir jetzt eine Fülle von Beispielen für Alterung betrachten, sie mit den hier gegebenen Ordnungskriterien klassifizieren und erste Begriffe über die zugrundeliegenden Mechanismen kennenlernen.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)