Quasikristalle I

Ein richtiger Kristall ist immer streng periodisch. Ein Baustein - die Basis - wiederholt sich in strenger Sequenz; es ist nicht unähnlich wie der Bau einer (dicken) Mauer mit Ziegelsteinen, die immer dieselbe Form haben.
Man kann auch zwei oder mehr verschiedene Ziegelsteine haben (zweidimensional wären es Fliesen); die Aufgabe ist immer, den Raum oder die Fläche komplett zu füllen, und das geht nur - so dachte man - in streng periodischen Arrangements.
Bis dann 1984 am National Institute of Standards and Technology in Gaithersburg, Md., USA, der Gastforscher Dan Shechtman vom Israel Institute of Technology in Haifa zu seiner Verblüffung fand, daß eine Al - Mn Legierung, die er eigentlich als kristallin kannte, die konventionellen Regeln der Kristallographie nicht befolgte - aber trotzdem definitiv nicht amorph war.
Geglaubt hat man es ihm zunächst nicht; er wurde lange und heftig angefeindet. 2011 hat er dann aber (endlich) den Nobelpreis für Chemie (!) bekommen. Dieser Link führt zu ein paar lesenwerten Details der MRS (Materials Research Society).
Im Rasterelektronenmikroskop waren geometrische Körper mit glatten Oberflächen zu sehen - typisch für Kristalle - aber sie hatten eine fünfzählige Symmetrie!
Vom normalen kristallinem Aufbau verschieden war, daß der Abstand von (für sich kristallinen) Atomreihen nicht fest war (wie für einen richtigen Kristall), sondern unsystematisch zwischen zwei festen Werten variierte. Zweidimensional kann man sich das etwa so vorstellen wie nachfolgend gezeichnet
Linienstruktur Quasikristall
Courtesy Dr. P. Steinhardt, Princeton University
Diese Muster mit typischen fünfzähligen "Sternen" kann man bekommen, wenn man die links dargestellen Fliesen immer nur so kombiniert, daß keine Brüche in den Linien auftreten.
Das sich dann ergebende Farbmuster ist auch ziemlich beeindruckend. Insbesonders sieht man sofort die vielen schönen Fünfecke, die eine fünfzählige Symmetrie vortäuschen, die aber gar nicht da ist.
Der reinen Mathematik war das nicht so neu. Sie hatte schon viel früher die Frage beantwortet, ob die Ebene mit einer endlichen Anzahl von verschieden geformten Fliesen einerseits vollständig bedeckt werden konnte, andererseits in nichtperiodischer Weise.
Die Antwort war stark davon abhängig, wie die Frage gestellt war. Suchte man 1. Fliesen, die sowohl periodisch als auch nichtperiodisch eine Fläche vollständig bedecken konnten, oder 2. Fliesen, die nur nichtperiodische Muster erlaubten?
Zur ersten Frage gibt es viele Lösungen, die eleganteste ist die "versatile Fliese" (versatil = wendig, beweglich, vielseitig), sie heißt auf auf Englisch passend "Versatile" (tile = Fliese).
Die zweite Frage führt ziemlich schnell in die tiefsten Abgründe der Mathematik.
Die dreidimensionalen real beobachteten Quasikristalle kann man sich nun immer entlang den folgenden zweidimensionalen Analogien aufgebaut denken - auch wenn's schwer fällt.
Die nachfolgenden Bilder zeigen periodische und aperiodische Strukturen, die beide mit der "Versatile"möglich sind. Sie sind Illustrationen aus dem Buch "The Emperors new Mind" von Roger Penrose nachempfunden; dort finden sich mehrere vollständige und schönere Bilder. Die "versatile Fliese", die "Versatile" ist dabei das einzelne sichelförmig gebogene Dreieck wie dargestellt
Mit der Versatile läßt sich zunächst ein simpler Kristall darstellen:
 
Versatile (Penrose)
Möglicher zweidimensionaler Kristall mit der Versatile.
Mit Variationen und Fortsetzungen der hier gezeigten Anordnung lassen sich aber auch mehrere Arten von Spiralen darstellen, die den "Boden" lückenlos bedecken, aber ganz sicher keine Translationssymmetrie haben.
Versatile und 
aperiodisches Muster
Kann bei Fortsetzung nicht kristallin werden (ist aber auch nicht typisch amorph)
sondern produziert bei geeigneter Fortsetzung aperiodischen spiralige Muster.

Will man nur Fliesen zulassen, die ausschließlich nichtperiodische Muster ergeben, wird die Lösung komplizierter.
Berger konnte 1966 zeigen, daß es zwar einen Satz Fliesen gab, der nur nichtperiodische Muster erzeugte, aber dieser (mathematische) Fliesensatz hatte 20 426 verschieden Fliesen. Er wurde zwar schnell auf "nur" 104 reduziert, aber praktische Bedeutung hatte das nicht.
Dann kam 1974 Roger Penrose von der Universität Oxford und zeigte, daß man mit zwei Fliesen auskommen kann - einem dicken und einem dünnen Rhombus.
Mit den beiden ""Penrose Fliesen"" kann man jede Ebene nur nichtperiodisch bedecken falls man sich an bestimmte Regeln hält, die z.B. durch die Farbe der Fliesenränder vorgegeben sind (sonst wird's periodisch).
Das sieht dann so aus wie unten gezeigt. Das rotumrandete "Fliesencluster" unten rechts zeigt eine häufig auftretende Überstruktur. Im Zentrum des Bildes ist gezeigt, wie sich der zweidimensionale Quasikristall auch durch häufiges Überlappen der hervorgehobenen Überstruktur darstellen läßt.
Courtesy Dr. P. Steinhardt, Princeton University
Die "Penrose tiles" sind nicht nur für die Materialwissenschaft der Quasikristalle wichtig, sie können auch sehr schön einen fundamentalen mathematischen Satz demonstrieren (der von Penrose immer wieder bemüht wird, um das menschliche Bewußtsein unter die natürlichen Phänomene zu subsummieren):
Satz: Es gibt mathematisch eindeutige Fragen, die auch eine eindeutige Antwort haben, wobei diese Antwort aber prinzipiell nicht berechenbar ist.
Auf unser Problem übertragen heißt das: Es läßt sich in voller Strenge mathematisch beweisen, daß es keine Möglichkeit gibt (auf mathematisch heißt das: keinen endenden Algorithmus), um zu entscheiden, ob ein gegebener Satz von Fliesen die Ebene vollständig ausfüllen kann (periodisch oder nichtperiodisch; ist egal).
Und das, obwohl eine eindeutige Antwort existiert; sie ist entweder ja oder nein. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, daß man durch Probieren oder Intuition für einen gegebenen Fliesensatz die Antwort findet; aber grundsätzlich ist das nicht in systematischer Weise für alle beliebigen Sätze von Fliesen möglich.
Seit Shechtman's aufregender Entdeckung, hat die Internationale der Materialwissenschaftler viele Legierungen gefunden (nie einen Elementkristall), die ähnliche Strukturen aufweisen und die als Quasikristalle bezeichnet werden. Manche dieser Quasikristalle haben Eigenschaften, die sich von denen ihrer kristallinen Brüder mit derselben Zusammensetzung stark unterscheiden. Sie sind oft härter, schlechter stromleitend und haben Oberflächen, auf denen (wie beim Teflon) praktisch nichts haftet.
Anwendungen dafür gibt es noch nicht. Die antihaft-beschichtete Bratpfanne, bei der die Schicht auch nicht schnell wieder abgeht wäre möglich, aber das Image eines derartigen Produktes ist von der Teflonpfanne gründlich versaut - hier kommt mal wieder die Psychologie rein.
Aber was nicht ist, kann noch werden. Das Studium der Quasikristalle hat nicht nur die Materialwissenschaft, sondern auch die Mathematik befruchtet. Früher oder später wird das Früchte tragen.
Damit ist aber noch lang nicht alles grundsätzliche über Quasikristalle gesagt, denn die Geschichte geht weiter. Wer wissen möchte, warum Quasikristalle in einer sechsdimensionalen Welt richtige Kristalle sind, betätigt den Link "Quasikristalle II"
 

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)