Peter Glotz

Der Haß auf die Naturwissenschaften

Eine Polemik zum "Zweikulturenwahn"

Gibt es zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als "zwei Kulturen" eine "eitle Kluft gegenseitigen Nichtverstehens"? Beobachten wir gegenwärtig einen politisch und gesellschaftlich gewollten "Niedergang" der vermeintlich unnützen Geisteswissenschaften? Oder sind gar die Naturwissenschaften in der Verteidigungsposition?

Hubert Markl hat im Spiegel 32 dieses Jahres mit einer furiosen Attacke auf den britischen Physiker, Schriftsteller und Politiker C.P. Snow (1905 ­ 1980) den "Zweikulturenwahn" dem Spott preisgegeben. Seine Grundthese ist ganz und gar richtig. Sie lautet: "Wer junge Menschen dadurch aufs Leben vorbereiten wollte, daß er sie sozusagen ­ gleichsam mit halbem Gehirn ­ nur auf die halbe Wirklichkeit einstimmte, der würde sie nicht bilden, sondern verbilden". Es ist in der Tat eine Torheit, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, Science und Humanities gegeneinander auszuspielen. Der Naturwissenschaftler Markl verschweigt nur, daß eben dies in Deutschland täglich passiert, und zwar zu Lasten der Naturwissenschaften.

Bedrohliche Ignoranz

Es ist nicht so wichtig, ob Markl dem Grenzgänger Lord Snow gerecht wird. Der war kein Dilettant, sondern ein wirksamer Wissenschaftspolitiker und kluger Kulturkritiker. Seine wissenschaftstheoretischen Unterscheidungen des "Humanistic Research" vom "Research in Natural Sciences" mag man bestreiten. Mit der These, daß es "eine eitle Kluft gegenseitigen Nichtverstehens" zwischen beiden Disziplinengruppen gibt, hatte und hat er recht. Hans Magnus Enzensberger hat diese Kritik in seinem gerade erschienenen Buch "Die Elixiere der Wissenschaft" kenntnisreich erneuert. Er bringt das Beispiel Mathematik. Wir lebten zwar in einem "goldenen Zeitalter der Mathematik", was man von bildenden Künsten, Literatur und Theater nicht sagen könne. Viele Jahrhunderte alte Probleme der Zahlen- oder Gruppentheorie seien in den letzten zwei Jahrzehnten gelöst worden, unter anderem von deutschen Mathematikern. Die Mehrheit der "Gebildeten" aber reagiere immer noch mit den gleichen Tönen: "Hören Sie auf. Mit Mathematik können Sie mich jagen". Große Teile der Bevölkerung seien über den Stand der griechischen Mathematik nicht hinausgekommen.

Die Folgen solcher Ignoranz beginnen bedrohlich zu werden. 1999 sagte der Präsident der Hochschulrektoren-Konferenz, Professor Klaus Landfried: "Der massive Rückgang der Studienanfängerzahlen in den Ingenieurwissenschaften und den meisten Naturwissenschaften seit 1992 hat in manchen Fächern bereits dazu geführt ­ und dies wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken ­ daß ein harter Wettbewerb um Diplomanden und Doktoranden eingesetzt hat, um Forschung im bisherigem Umfang und in hoher Qualität weiterführen zu können." Im Dezember 2001 ergänzte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen: "Insbesondere bei der Zahl der angehenden Physiker und Chemiker steht der Abwärtstrend erst am Anfang." Trotz einer Erhöhung der Ersteinschreibungen 2000 und 2001 lägen die Studienanfängerzahlen in diesen Fächern noch immer unter dem Niveau von 1990. Inzwischen zeigten die Pisa-Studien: Deutschland liegt bei den mathematischen wie naturwissenschaftlichen Leistungen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Auch in den USA und Frankreich sieht es nicht wirklich gut aus. Spitzenreiter sind Japan, Finnland, das Vereinigte Königreich, Österreich, Schweden. Was ist der Grund für diesen Rückstand?

Vielleicht sollten wir die Thesen des gerade 70 Jahre alt gewordenen, in Berkeley lehrenden Philosophen John R. Searle ernst nehmen. Der spricht kühl von "Wissenschaftshaß". Viele Wortführer des Zeitgeistes hätten inzwischen jeden Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit aufgegeben und das Bild von den Naturwissenschaften als Quellen objektiven Wissens über eine unabhängig von uns existierende Wirklichkeit torpediert.

Modischer Zweifel am "Realismus"

John Searles provozierendster, von unseren Gurus nur noch höhnisch belächelter Satz lautet: "Die endgültige Wirklichkeit, um mich einer eher feierlichen Ausdrucksweise zu bedienen, ist die Wirklichkeit, die in der Chemie und Physik beschrieben wird". Die modischen Zweifel am "Realismus", also der Vorstellung, daß eine geistesunabhängige Welt existiere, seien nichts anderes als "ein Wille zur Macht, eine Sehnsucht, die Dinge unter Kontrolle zu haben und ein tiefgreifendes, langanhaltendes Ressentiment". Unsere postmodernen, poststrukturalistischen, sozialkonstruktivistischen und relativistischen Meisterdenker seien im Grunde nur von einer einzigen Frage bewegt: "Warum sollten wir uns nicht die "wirkliche Welt" als etwas denken, das wir schaffen und das sich mithin nach uns richten muß? Wenn die gesamte Wirklichkeit eine "soziale Konstruktion" ist, dann sind wir es, die das Sagen haben." Searles Schlußfolgerung lautet: "Die Wissenschaft ­ mit ihrem Prestige, ihrem offenbaren Fortschritt, ihrer Macht, ihrem Geld, ist zu einer Zielscheibe des Hasses und des Ressentiments geworden."

Ohne Tatsache ginge es uns besser

Searles Analyse trifft zu. Selbstverständlich beruht Weltwahrnehmung auch auf konstruktiven, schöpferischen Prozessen in den Köpfen der Menschen. Richtig aber ist, daß sich eine hämische Missachtung der exakten Wissenschaften immer breiter macht. Von dem mit vielen Preisen verwöhnten amerikanischen Vordenker Richard Rorty stammt der bemerkenswerte Satz: "Ich denke, die ganze Idee einer Tatsache ist eine, ohne die es uns besser ginge". Frankreich berühmtester Philosoph Jacques Derrida sekundiert ihm mit dem für Nichtgläubige etwas geheimnisvollen Satz: "Ein Text-Äußeres gibt es nicht". Auf den Kulturseiten der feinsten Zeitungen dürfen Professoren und Bestsellerautoren blühenden Unsinn verkünden, zum Beispiel, daß der moderne Krieg in einem nicht-euklidischen Raum stattfinde oder daß das, was wir beharrlich Raum nennen würden, in Wirklichkeit Licht sei. Bei einem bestimmten Teil unserer öffentlichen Meinung ist es inzwischen gängig, die Begriffe der Naturwissenschaft ohne die geringste inhaltliche oder empirische Rechtfertigung zu gebrauchen.

Nun stammen die zitierten Beispiele von den großen Ikonen, und das sind derzeit Amerikaner oder Franzosen. Aber man soll sich nicht täuschen. Die Grundgedanken stammen aus Deutschland; Nietzsche und Heidegger kommen auf dem Umweg über New York oder Paris zu uns zurück. Die Stars der Postmoderne kommen zwar aus Metropolen, über die unser Tabula-rasa-Deutschland noch nicht wieder verfügt. Aber der Mittelbau des Irrationalismus ist bei uns so solide wie der Mittelstand im Maschinenbau. Er betet zwar nach, aber er betet.

Wie weit wir inzwischen von der Aufklärungsvision und der westlichen rationalistischen Tradition entfernt sind, zeigen Hunderte Dissertationen oder Habil-Schriften. Ich zitiere zwei typische Sätze aus einer beliebigen akademischen Qualifikationsarbeit, diesmal aus dem Jahr 1998. Satz eins: "Die Fragestellung untersucht nicht, ob x seine Aussage beweist, ob seine Argumentation schlüssig ist oder seine Darstellungen überzeugen". Wieso eigentlich nicht? Wäre das nicht nötig? Satz 2: "Der in dieser Abhandlung verwendete Begriff der außertextuellen Wirklichkeit impliziert nicht, daß es die stabile und objektive Wahrheit gibt". Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Seit den 70er Jahren sind ganze Kavalkaden von jungen Leuten, die derartige Exerzitien absolvieren mußten, ins Schulsystem, in Universitätspositionen oder in Schlüsselstellen der Medien eingesickert. Wer wundert sich da noch über die Überlegenheit junger Japaner, Finnen oder Schweden in der Mathematik oder in den Naturwissenschaften?

Dreiste Abwertungen

Man kann der halb verächtlichen, halb dreisten Abwertung jener Wissenschaften, ohne die diese ständig wachsende, ständig anspruchsvoller werdende Menschheit gar nicht überleben könnte, täglich begegnen. Ich biete lediglich zwei Beispiele aus einer vielfach verlängerbaren Liste, und zwar nur von ernstzunehmenden Autoren.

Johano Strasser zum Beispiel, Präsident des deutschen PEN und einer der Theoretiker der Sozialdemokratie, mokiert sich in seinem letzten Großessay über die "materialistischen" (!) Naturwissenschaften und die "Mechanisierung sozialer Beziehungen", die durch ein "auf die moderne Naturwissenschaft gestütztes Verständnis des Lebens" entstünde. Wörtlich: "Das Fatale ist, daß der Siegeslauf der modernen Naturwissenschaft nicht nur außerordentliche neue Gefährdungen und damit Kontrollnotwendigkeiten schafft, sondern zugleich jene kulturellen Voraussetzungen untergräbt, ohne die eine verantwortliche Kontrolle und Steuerung der Entwicklung gar nicht denkbar ist". Die Naturwissenschaftler als Maulwürfe, die untergraben.

"Nicht schimpfen, sondern forschen."

Oder die FAZ. Deren Feuilleton-Herausgeber Frank Schirrmacher vertritt zwar die richtige These, daß sich in den modernen Naturwissenschaften derzeit grundstürzende Entwicklungen abspielten. Deshalb konzediert er diesen Disziplinen mehr Raum als in traditionellen Feuilletons normalerweise zu finden ist. Aber erstens hetzt er seine Leute weniger auf die moderne Spitzenwissenschaft und mehr auf publizitätssüchtige Außenseiter, die behaupten, daß man übermorgen das Gehirn der Menschen scannen könne, oder daß schon in dreißig oder vierzig Jahren die Arbeit der Menschen von Cyborgs übernommen werde könne. Zum anderen ist er offenbar nur beschränkt Herr im eigenen Haus. Der verbissene Kampf einer offenbar fundamentalistischen Fraktion gegen die Stammzellenforschung und ihre Protagonisten trägt fast schon komische Züge. Daß in der entsprechenden Ethikkommission neben vier Theologen, Philosophen und sonstigen Geisteswissenschaftlern auch noch ein paar Biologen und Mediziner (nämlich fünf) sitzen, hält Patrick Bahners allen Ernstes für eine "strukturelle Schieflage" (13. Juli). Georg Paul Hefty verurteilte diese "Untergrabung" des angeblichen Parlamentswillens schon am 17. Juni: "Das jeweilige Votum ist absehbar". Mit dem Untergraben haben sie es. Jeder Bauernverbandsfunktionär oder Versicherungslobbyist darf den Bundestag täglich an die Wand nageln. Wenn aber Stammzellenforscher oder gar die Präsidenten der Wissenschaftsorganisationen eine gesetzliche Regelung kritisieren, mahnt Christian Schwägerl mit bebender Stimme: "Nicht schimpfen, sondern forschen". Hubert Markl hat am eigenen Leib erlebt, wie Naturwissenschaftler, die diesen Pressure-Groups laut und deutlich widersprechen, gehetzt werden.

Die Geisteswissenschaften, die Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Selbstbewußtsein gegenüber den Naturwissenschaften entwickelt haben, sind als Orientierungs- und Sollensdisziplinen, als Traditionsbewahrer für jede Gesellschaft ganz unentbehrlich. Aber zum einen müssen die Geisteswissenschaftler in ihrer Zunft dafür sorgen, daß nicht zu viele von ihnen sich durch Übergriffe auf fremdes (naturwissenschaftliches) Terrain lächerlich machen. Der französische Physiker Alain Sokal hat neulich in einer bewußten Provokation bewiesen, daß man mit Texten, die vor Absurdität und Trugschlüssen strotzen, von hochrenommierten Zeitschriften der Geistes- und Sozialwissenschaften akzeptiert werden kann; ein deutscher Sokal fände ein breites Betätigungsfeld. Und zweitens sollten die Geisteswissenschaftler und die von ihnen ausgebildeten Mandarine das "eitle gegenseitige Nichtverstehen" nicht übertreiben. Heute wird zu oft versucht, Neugier, Forscherdrang und experimentelle Versuchsanordnungen mit dem hingespuckten Begriff "Szientismus" abzuwerten. Vor ein paar Jahren waren davon vor allem die Hochenergiephysiker betroffen, heute die Mikrobiologen, die Genforscher und die Reproduktionsmediziner.

Kein Niedergang der Geisteswissenschaften

Wer so argumentiert, gerät rasch in die Fänge einer geschickten Humanities-Lobby mit alarmistischer Semantik. In Tübingen hat die Universität 90 (in Worten: neunzig) Stellen umgewidmet, angeblich von den Geistes- zu den Lebenswissenschaften. Was für ein Skandal! Nur existiert dieser Skandal nicht. Ein Teil der 90 Stellen ging nicht zu den

Biowissenschaften, sondern in einen (sinnvollen) Stellenpool des Rektors. Ein Teil der Stellen kam nicht aus der Geisteswissenschaft, sondern von den klassischen Naturwissenschaften. Die Zahl der Professorenstellen für Geisteswissenschaft an den deutschen Universitäten ist seit 1995 (erneut nach Angaben des Präsidenten der Rektorenkonferenz, diesmal vom 11. Juli dieses Jahres) gestiegen, nicht gefallen. Es gibt keinen "Niedergang der Geisteswissenschaften", wohl aber eine wachsende Akzeptanzkrise der Naturwissenschaften.

Die Verachtung des "Szientismus" treibt Deutschland und ein paar andere europäische Länder in den technologischen Konservativismus. Aber wir sollten vorsichtig sein. China befand sich im 14. Jahrhundert um Haaresbreite vor der Industrialisierung. Papier und Druck waren chinesische Erfindungen, den Kompaß hatten die Chinesen schon um 960 erfunden, ihre Dschunken waren die höchstentwickelten Schiffe der Welt. 1430 plötzlich verbot die Bürokratie den Bau von Großschiffen; dann kam die Isolierung. Die kulturellen Eliten wandten sich von Naturwissenschaft und Technik ab, weil sie um die "harmonische" Beziehung zwischen Mensch und Natur fürchteten. Wollen einige von uns ins China des 15. Jahrhunderts zurück?

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